Tagebuch Dienstag, 22. August 2023 – Zwei Zitate

In den letzten zwei Büchern, die ich las, fiel mir eine unerwartete Gemeinsamkeit auf, die das Urteil über Menschen betreffen. Musste wieder an den sprichwörtlichen „Firnis der Zivilisation“ denken. Außerdem an die Fassungslosigkeit der Hauptfiguren, die sich durch beide (halb-fiktionale) Bücher zieht und die ich, natürlich, auch aus anderen Aufzeichnungen von Häftlingen kenne. Diese komplette Verständnislosigkeit der sinnlosen Grausamkeit gegenüber, die Menschen anderen Menschen gegenüber ausüben. Weil sie es auf einmal können.

„Es läßt sich schwer beschreiben, was Johannes seit seiner Ankunft im Lager empfand. Es war nicht so sehr das Gefühl des Schreckens oder der Verstörung oder einer dumpfen Betäubtheit. Es war vielmehr die Empfindung einer immer zunehmenden Kälte, die aus einem bestimmten Punkt seines Innern sich immer weiter ausbreitete, bis sie seinen ganzen Menschen erfüllte. Es war ihm, als erfriere sein bisheriges Leben und seine ganze Welt und als könne er nur noch wie unter einer blinden Eisdecke auf etwas ganz Fernes blicken, und in dieser Ferne bewegten sich lautlos und unwirklich die Gestalten seines bisherigen Daseins, seine geliebten Menschen, seine Bücher, seine Hoffnungen und Entwürfe. Alle schon von dem Keim des Todes gezeichnet, dem Verfall anheimgegeben, sinnlos in einer Welt, in der diese Pfarrerssöhne herrschten. Er fühlte, wie die eisige Kälte seine Träume zerbrach, wie der Frost die Blütenstengel zerbricht, wie durch das Bild Gottes ein Sprung hindurchlief, der nicht mehr heilen würde, und wie nur eines sich lautlos und ungeheuer vor ihm aufrichtete, was er früher gerne mit Träumen und Wünschen verziert und bekleidet hatte: die nackte, erbarmungslose Wirklichkeit, das Gesicht des Menschen, wie es war, wenn man ihm Macht gab, ihn der Fesseln entkleidete und ihn zu dem zusammenballte, was man »Masse« nannte.“

Ernst Wiechert, „Der Totenwald“, Leipzig 1989, S. 55. 1937 geschrieben, 1946 veröffentlicht, Buch bei der Wikipedia, Buch bei Suhrkamp, ganzer Text bei Gutenberg.

„‚You don’t know what makes anybody tick. I used to think out there is out there and then once you’re in here, you’re in here. That everybody in Nickel was different because of what being here does to you. Spencer and them, too – maybe out there in the free world, they’re good people. Smiling. Nice to their kids.‘ His mouth squinched up, like he was sucking on a rotten tooth. ‚But now that I been out and I been brought back, I know there’s nothing in here that changes people. In here and out there are the same, but in here no one has to act fake anymore.‘“

Colson Whitehead, „The Nickel Boys“, London 2019, S. 79. Pulitzer-Würdigung.