Tagebuch Mittwoch, 20. September 2023 – Wildt, Friedländer
„Als [Saul Friedländer] 2007 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, erklärte [er] am Schluss seines Vortrags, in dem er vor allem auf persönliche Dokumente seiner eigenen Familie Bezug genommen hatte: ‚Sechzig Jahre sind vergangen, seit diese und zahllose ähnliche Stimmen zu vernehmen waren. Und doch berührten sie uns, mag auch lange Zeit verstrichen sein, mit einer ungewöhnlichen Stärke und Unmittelbarkeit, die weit über die Grenzen der jüdischen Gemeinschaft hinaus fortwirkt und die große Teile und mehrere Generationen der abendländischen Gesellschaft bewegt hat. Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun, und wir werden auch nicht durch kommerzielle Darstellungen des Geschehens manipuliert. Vielmehr erschüttern uns diese individiuellen Stimmen infolge der Arglosigkeit der Opfer, die nichts von ihrem Schicksal ahnten, während viele rings um sie das Ergebnis kannten und manchmal an seiner Herbeiführung beteiligt waren. Vor allem jedoch bewegen uns die Stimmen der Menschen, denen die Vernichtung bevorstand, bis auf den heutigen Tag gerade wegen ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Die Stimmen der Menschen bewegen uns unabhängig von aller rationaler Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von Neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen.‘
Die Geschichte der Shoah ist auch eine Geschichte des Verlustes an Gewissheit. Mit Auschwitz zerstob die Verheißung der Moderne auf historischen Fortschritt und Selbstvervollkommnung und wurde offenbar, wozu Menschen in der Lage waren und sind. All die zivilisatorischen Standards, auf die die bürgerliche Gesellschaft zu Recht stolz war, wie Recht, Vernunft, Moral, Autonomie, Selbstbestimmtheit haben in dem Moment, in dem es im 20. Jahrhundert darauf angekommen wäre, versagt. Nicht eine einzige zivilisatorische Grenze hat dem Massenmord eine Schranke setzen können; allein die Schwierigkeiten, die die Nationalsozialisten selbst schufen, sorgten hier und da einmal für eine Verlangsamung der Radikalisierung. Nicht einmal mehr die Religion war imstande, in der Apotheose der Rassetäter eine ungeheuerliche Gotteslästerung zu erkennen, die entschlossenen Widerstand geradezu zur Christenpflicht gemacht hätte.“
Michael Wildt: „Raul Hilberg und Saul Friedländer – Zwei Perspektiven auf den Holocaust“, in: Ders.: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019, S. 387–404, hier S. 402/403.
Betroffenen von Gewalt, Ausgrenzung und ihrer Aufarbeitung wird gerne der Vorwurf gemacht, dass sie nicht objektiv über die sie betreffenden Themen schreiben könnten. „Warum, fragte [Friedländer], sollten Historiker, die zur Gruppe der Verfolger gehören, befähigter sein, distanziert mit der Vergangenheit umzugehen als diejenigen, die zur Gruppe der Opfer gehören?“ (S. 395)
Generelle Leseempfehlung für den Band.