5. Januar 2024

Das erste Mal die neue Jahreszahl geschrieben, muss die 4 noch üben, vorne im ersten ausgelesenen Buch des Jahres, „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe. Große Empfehlung; hat mir in seiner Mischung aus Roman, Essay und Dokumentation sehr gefallen.

Im Buch geht es zunächst um die eigene (fiktive?) Familiengeschichte, dann weitet sich der Blick aber auf die NS-Zeit, die der DDR und die der Wiedervereinigung, welche Wunden und Narben ein bis drei Generationen mit sich herumtragen und wie sie damit umgehen.

Dazu passt der Text von Max Czollek gut, der sich mit dem „Versöhnungstheater“ von Bundesrepublik und DDR beschäftigt: „Deutsche Erinnerungskultur. Vom Ausbleiben der Selbstkritik“. (Via @teresabuecker@social.dev-wiki.de)

„Die zweite Einsicht über die Grenzen der Erinnerungskultur wuchs über den Sommer 2023, als die Alternative für Deutschland (AfD), die ein völkisches Weltbild vertritt und vom Verfassungsschutz in mehreren Bundesländern als gesichert Rechtsextrem eingestuft wird, sich bei deutschlandweiten Wahlumfragen bei über zwanzig Prozent Zustimmung festsetzte. Es wäre zu erwarten gewesen, dass diese Situation zu einer Infragestellung der deutschen Erzählung von der eigenen Aufarbeitung geführt hätte – ob nun der westdeutschen Vorstellung von einer bürgerlichen Mitte als Garant für die plurale Demokratie oder der ostdeutschen Erzählung vom Antifaschismus als ideologische Verkörperung eines Nie Wieder. Diese Krise des durch der erinnerungskulturellen Selbstbilder blieb weitgehend aus. Auf die Spitze brachte es Markus Söder, der gerade noch seinen Vizechef Hubert Aiwanger für sein antisemitischen Flugblatt entschuldigt hatte und wenige Wochen darauf der jüdischen Gemeinschaft in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung mit großer Anzeige zum Neujahrsfest Rosh Hashana gratulierte. Dieses Fehlen jeglicher Selbstkritik verweist auf die Grenzen der deutschen Erinnerungskultur. Es unterstreicht auch eine ihrer zentralen Funktionsweisen: dass sie aktuell weitgehend unabhängig von der Realität stattfindet, die sie umgibt.

Und das ist keine neue Entwicklung, sondern war eigentlich schon immer so.“

In diesem Zusammenhang ein Beitrag von Thomas Stadler, der das Nicht-Verbot der NPD mit der heutigen Situation vergleicht: „AFD-Verbotsantrag jetzt?“

„Für die Frage, wann eine Partei die Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 GG erfüllt, muss man sich zunächst damit beschäftigen, was das BVerfG überhaupt unter dem Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung versteht. Das Bundesverfassungsgericht meint damit nicht das gesamte Grundgesetz, sondern vielmehr nur zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind.

Das ist in erster Linie die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit.

Außerdem betrachtet das Gericht das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip als elementar. Die Menschenwürde als zentraler und elementarer Wert unserer Verfassung, weist auch den Weg zur verfassungsrechtlichen Bewertung der AfD. […]

Ob die Stellung eines Verbotsantrags politisch klug ist, kann man sicherlich diskutieren. Denn das Verfahren wird Jahre dauern und die AfD wird diese Phase nutzen, um sich noch stärker als Opfer eines Systems der „Altparteien“ zu inszenieren, die nur einen unliebsamen Kontrahenten loswerden wollen. Der Ansatz, man müsste die AfD ausschließlich politisch bekämpfen, hat daher sicherlich seine Berechtigung.

Andererseits stellt sich die Frage, ob uns die Verfassung nicht sogar den Auftrag erteilt, ihre Feinde mit denjenigen juristischen Mitteln zu bekämpfen, die sie selbst bereitstellt.“