Donnerstag, 21. März 2024 – Frei und Weizsäcker
Abends die Buchvorstellung von Norbert Frei angeschaut, auf die ich gestern hingewiesen habe. Ist leider nicht mehr als Video online; manchmal belässt das Fritz-Bauer-Institut Veranstaltungen auf YouTube. Falls das Video online geht, gerne nachschauen, das war eine spannende Stunde.
Erschrocken festgestellt, dass die Rede zum 8. Mai 1985 von Weizsäcker fast 40 Jahre her ist. Kann gar nicht sein, das war gefühlt vorgestern. Außerdem gelernt, dass diese Rede die national und international am meisten beachtete und erforschte Rede eines Bundespräsidenten ist. Und dass bis kurz vor Schluss noch ein Gnadengesuch für Rudolf Heß drin stand. Ähem.
Ich copypaste (aka fotografiere mit dem iPhone den Text, das Handy erkennt ja Text und schicke diesen dann per Mail an mich, um ihn hierhin zu kopieren) mal vier Seiten aus Freis Buch dazu. Der besseren Lesbarkeit wegen habe ich ihn nicht eingerückt:
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„Die Ambivalenz, mit der Weizsäcker am 8. Mai 1985 – wie in seinen am Ende nur wenigen noch folgenden Reden über die Vergangenheit – einerseits die Autorität des Zeitzeugen in Anspruch nahm, andererseits aber seine persönlichen Erfahrungen weitestgehend beschwieg, unterschied ihn nicht von Carstens oder Scheel, die ebenfalls Uniform getragen hatten, und letztlich auch nicht von den älteren Vorgängern im Amt. Was ihn heraushob und seiner Rede Gültigkeit verlieh, war die Haltung, in der er zu sprechen verstand. Denn wirklich Neues sagte Weizsäcker ja selbst nach eigenem Dafürhalten nicht, und er ging auch nicht über das Mitte der achtziger Jahre gesellschaftlich Diskutierte hinaus. Aber wenn er konstatierte, dass «jeder Deutsche» miterleben konnte, «was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zum offenen Hass», wenn er fragte, wer «arglos bleiben» konnte nach den «Bränden der Synagogen», dann tat er dies mit der Macht und Sprachgewalt des Staatsoberhaupts, das im Namen der Deutschen Zeugnis ablegte: «Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.»
Präziser und zugleich eleganter – auch in der Differenzierung von Schuld und Verantwortlichkeit – konnte man das kaum sagen, ohne genauer von sich selbst zu sprechen: «Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, da beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.»
Das war einerseits deutlich, beließ anderseits aber jedem, der die Rede verfolgte (die ARD übertrug live aus dem Bundestag), die Möglichkeit individueller Selbstexkulpation: Wenn «allzu viele» sich auf Nichtwissen beriefen, beriefen sich manche eben doch zu Recht darauf, zumal in Verbindung mit dem zweifellos gern gehörten, von vielen wohl geradezu erwarteten nächsten Satz: «Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.» Aber auch darauf folgte sogleich wieder eine Einschränkung, zutreffend und vieldeutig und sehr protestantisch: «Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.»
Auf solchen Sätzen, gesprochen von einem Präsidenten, der sich auf religiöse Metaphern und liturgische Formen verstand, beruhte zweifellos ein Großteil der Wirkung von Weizsäckers Rede. Allein die Entscheidung, von seinem einleitenden Kurzpsychogramm des Kriegsendes nicht sogleich in die historische Darstellung überzugehen, sondern im Duktus säkularisierter Fürbitten zunächst der einzelnen Opfergruppen zu gedenken, veränderte den Rezeptionsrahmen und setzte einen sehr besonderen, erhabenen Ton. Dahinter verschwanden manche Defizite: Sei es, dass sich Weizsäcker des fragwürdigen Begriffs der «Verstrickung» bediente, sei es, dass er an keiner Stelle von der Verantwortung der Eliten sprach oder dass er Hitler gewissermaßen als Einzeltäter auftreten ließ, der das «ganze Volk zum Werkzeug» seines Judenhasses gemacht hatte. Oder dass er, im Grunde nicht anders als einst Heuss oder Lübke, die Deutschen am Ende des Krieges von Hitler «gequält, geknechtet und geschändet» sah.
Selbst professionellen Beobachtern scheint derlei seinerzeit entgangen zu sein, zumal den vielen Gesinnungsfreunden des Präsidenten. Marion Gräfin Dönhoff und Fritz Stern, die die Ansprache vor dem Bildschirm verfolgten, hörten die «unerschrockenen, eloquenten und irgendwie tröstlichen Worte» – und waren sich, so erinnerte sich der Historiker, einig: «Es war die wichtigste Rede, die nach dem Krieg in Deutschland gehalten worden war. Es war die Abrechnung eines echten Konservativen, genau zur rechten Zeit und Gelegenheit.» (S. 275/276)
Die Resonanz auf Weizsäckers Rede war gewaltig. Nach den bedrückenden Debatten um den Staatsbesuch des US-Präsidenten und dem Fiasko von Bitburg wirkte der Vormittag geradezu befreiend, im Parlament wie für Hunderttausende vor den Bildschirmen oder am Radio. Die bundesrepublikanische Presse berichtete anderntags auf ihren Titelseiten, zahlreiche Redaktionen druckten die Rede im Wortlaut und stellten anerkennende Kommentare dazu. Aber auch weltweit, vor allem in den USA und in Israel, wo es zuletzt harsche Kritik am Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit gegeben hatte, gingen die Medien vielfach ausführlich auf die Ansprache ein.
So eindeutig allerdings, wie es der Aufmacher der Süddeutschen zusammenfasste – «Weizsäcker: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung» –, war die Botschaft zunächst jedoch nicht überall verstanden worden. Im Unterschied zur Frankfurter Rundschau, die ähnlich formulierte, und der Welt, die zusätzlich «kein Tag zum Feiern» in die Überschrift nahm, gab sich die Frankfurter Allgemeine, die Kohls Bitburg-Kurs bis zuletzt verteidigt hatte, eher zugeknöpft: «Weizsäcker: Ein Tag der Trauer und der Hoffnung».
Wirkungsmächtiger als der Tagesjournalismus war ohnehin das sich rasch erweisende – und anhaltende – gesellschaftliche Interesse an der Rede. Friedbert Pflügers effiziente Offentlichkeitsarbeit mochte dazu einiges beitragen, auch wenn es zum Beispiel eine Schallplatte, von der die Produktionsfirma zehntausend Exemplare für weiterführende Schulen zur Verfügung stellte, schon zu Zeiten von Theodor Heuss gegeben hatte, 1952 nach seiner Belsen-Rede. Doch mit guten Kontakten in die Medien und in die Landeszentralen für politische Bildung ließ sich weder erklären, dass die Nachfrage nach dem Text über viele Monate anhielt, noch, dass sich das Präsidialamt veranlasst sah, Ubersetzungen in zwanzig Sprachen in Auftrag zu geben. Gunter Hofmann, damals Bonner Bürochef der Zeit, brachte die eigentümliche Wirkung der Rede später auf den Punkt: «Uns jungen Journalisten, die sich vielleicht ein paar mehr Verstöße gegen die herrschenden Denkmuster gewünscht hatten, wurde dennoch unmittelbar bewusst, dass nichts davon eine Selbstverständlichkeit war. Das war die Paradoxie: Neu waren die Einsichten nicht, und trotzdem zogen sie einen Schleier weg. Man atmete durch.»
Aus der inzwischen nahezu verdoppelten zeitlichen Distanz zum Kriegsende 1945 lässt sich konstatieren, dass keiner anderen politischen Rede, die seitdem in Deutschland gehalten wurde – auch nicht in den geschichtsträchtigen Jahren 1989/90 – ein ähnliches Maß an Beachtung und internationaler Anerkennung zuteil geworden ist wie jener Weizsäckers am 8. Mai 1985. Und unübersehbar ist auch: Die Ansprache des sechsten Bundespräsidenten gehört in die Reihe jener erinnerungspolitischen Großereignisse, die 1979 mit der Serie «Holocaust» begonnen hatte und jene «Erinnerungskultur» begründen sollte, die das vereinte Deutschland bis in die Gegenwart prägt. Zum Ende von Weizsäckers Amtszeit 1994 war «die Rede» in einer Gesamtauflage von zwei Millionen Exemplaren verbreitet, darunter auch eine Ausgabe bei Siedler, in Leinen gebunden wie einst die Heuss-Texte bei Leins.“ (S. 279/280)
Aus: Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit 1949–1994, München 2023.