Fade to grey

In der Schlange aus Autos, die an der Ampel wartet, sitzt eine junge Frau in ihrem Wagen. Wangenknochen, Halssehnen, fest verschlossene Lippen. Sie starrt nach vorne, sieht nicht zur Ampel, sieht auch nicht das Auto, das direkt vor ihrem wartet. Sie schaut durch das Blech und das Glas und die Passagiere hindurch, hält sich am Lenkrad fest, schaut in das blasse Licht des Morgens. Eine Haarsträhne hat sich aus ihrem Zopf gelöst, sie hängt wie eine Trennlinie vor ihrem Gesicht, fahle Haut, helle Augen. Wenn ich noch länger zu ihr hinschaue, wird sie sich auflösen, einfach wegtropfen. Ich kann sie nicht halten, sie scheint sich von mir wegzubewegen, ohne dass sie sich rührt. Sie will nicht hier sein. Aber sie weiß auch nicht, wo sie sonst hinsollte.

In der Fußgängerzone unterhalten sich zwei Frauen. Ein kleiner Junge steht daneben, eingepackt verschwindet er in seiner Jacke und versteckt sich hinter den Beinen der einen Frau, die turmhoch über ihm lacht. Es schaut und versteht nicht, weit aufgerissene Augen, die an den vielen Beinen vorbeiflackern, nichts fassen, nirgends stehenbleiben. Ein Mann stößt ihm seine Einkaufstüte an die Jacke, er erschrickt und macht sich ganz steif und reißt die Augen noch weiter auf und versucht, in einer Sekunde einen Meter zu wachsen. Eine Hand will ihm den Kopf tätscheln, aber sie bleibt zwischen dem Lachen und seinen Haaren in der Luft hängen, er bemerkt es nicht, er klammert sich an den Beinen fest und hofft, dass es die seiner Mutter sind, und erst jetzt traut er sich zu blinzeln.

Im Schaufenster des Elektrogeschäfts steht ein unübersehbares Schild. Es verdeckt einige der billigen Kameras und Toaster, die auf weißem Stoff ungeschickt drapiert sind. Das Schild verheißt Preisnachlässe, und der alte Mann, der vor dem Fenster steht und sich sehr genau das Schild durchliest, hat sie wahrscheinlich gar nicht nötig. Graue Hose, beige Jacke steht er im Nieselregen und liest und liest und liest, immer wieder die drei, vier Sätze, die doch nur wollen, dass er in den Laden kommt und Kameras kauft und Toaster, damit weitere Kameras und Toaster ins Schaufenster geräumt werden können. Eine scharfe Bügelfalte definiert seine Beine, unten gleiten sie in polierte Schuhe. Die Jacke ist penibel geknöpft, staubfrei, richtig, geradeaus. Der Mann muss sich ein wenig vorbeugen, um die letzten Worte lesen zu können, und in diesem Augenblick verschwindet die Pose, der Stolz, das Aufrechte. In diesem Moment verströmt er Verlorenheit und Nebel, und ich sehe seine Wohnung, in der Staubdeckchen auf den Sessellehnen liegen, wenige Bücher im dunklen Regal verschwinden, das im dunklen Wohnzimmer verschwindet, selten genutzt, ganz alleine, die Gardinen sind zugezogen, von ihr sind nur noch Fotos da, die im Schlafzimmer in einem wackeligen Rahmen stehen, er schaut sie jeden Tag an, jeden Abend und jeden Morgen und dann geht er hinaus, aus der Dunkelheit in den Regen und liest Preistafeln und Firmenschilder und Werbeplakate und Mietgesuche an Laternenpfählen, alles, was ihn ein paar Minuten beschäftigt, bevor er wieder ins Dunkel geht, um seine Kleider zu waschen, zu bügeln, richtig und geradeaus zu knöpfen und in den Schrank zu hängen. Wenn er die Kleiderschranktür öffnet, verdeckt diese kurz die Fotos.

3 Antworten:

  1. großartiger Text … es gibt viele die in die Beschreibung “fade to grey” passen … schön, daß es aber auch immer noch Menschen gibt, die sie doch sehen und wahrnehmen. Einen schönen zweiten Advent!

  2. Aber wer weiß…
    http://www.ker0zene.de/archives/2004/09/12/more-than-meets-the-eye/.

  3. Danke!