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Sehr spannender Artikel von Berthold Seliger aus der Berliner Zeitung, der sich vordergründig mit der Popkomm beschäftigt, aber eine Menge interessanter Zahlen und Fragen im Gepäck hat (Hervorhebungen von mir):
„Keine Rede davon, dass die Branche bei der Entwicklung digitaler Tonträger alles verschlafen hat – von der Erweiterung der Vertriebswege bis zur Erneuerung des Urheberrechts. Außerdem weist selbst der BMI (Anm: Bundesverband Musikindustrie) in seinem Jahreswirtschaftsbericht darauf hin, dass illegale Downloads und der Absatz von CD-Rohlingen stark rückläufig sind: Von 2003 bis 2007 hat sich die Zahl illegaler Downloads von 602 auf 312 Millionen fast halbiert, obwohl es drei mal so viele DSL-Zugänge gibt, heißt es dort. Die Tonträgerkonzerne erwirtschaften längst mehr als jeden fünften Euro im Internet, 2007 weltweit 3,7 Milliarden Dollar, wobei der Umsatz allein von 2007 auf 2008 um ein Drittel stieg.
Die Erhebungen sind durchaus fragwürdig: Woher will der Verband etwa genaue Zahlen illegaler Downloads wissen? Und nicht jeder Rohling wird zum “Schwarzbrennen” von Musik genutzt. Es gehört Chuzpe dazu, von der Politik dennoch protektionistische Gesetze zu verlangen. Gornys Konzept ist es, der Politik seine Forderungen stetig einzuhämmern: der tausendfach verbreitete Unsinn wird schon irgendwann hängenbleiben. Unter diesem Motto unternahmen Gorny & Co. schon Kriminalisierungsversuche der Kunden durch ihre fragwürdige “Copy kills music”-Kampagne und forderten scharfe Gesetze zur Diebstahl-Abwehr im Internet. Vorbild ist die Netzsperren für einzelne Musik-Piraten in Frankreich – ein Gesetz, das dort gerade vom Verfassungsgericht kassiert wurde, weil es gegen das Grundrecht auf Informationsfreiheit verstößt.
Das Geschäftsmodell der Tonträgerindustrie ist überlebt und so siech wie der Quelle-Katalog. Der Daseinszweck der Tonträgerindustrie war es, Musikaufnahmen zu finanzieren, zu kopieren und zu vertreiben. Alle drei Aufgaben sind mittlerweile obsolet: Mittlerweile beherrschen die Künstler die Produktionsmittel, und in Zeiten von Internet ist es leicht, direkten Kontakt zwischen Künstler und Publikum herzustellen. Nicht nur Radiohead verkaufen so ihre Musik. Und da die”kulturveräußernde” Tonträgerindustrie nie ernsthaft an der Entdeckung und Förderung guter neuer Musik interessiert war, hat sie ihre Existenzberechtigung verloren – im Gegensatz zu all den ehrenwerten Independent-Firmen, bei denen Musikliebhaber arbeiten, und die genau deshalb und wegen ihres Vertrauensverhältnisses zu ihren Künstlern auch überleben werden, wenn auch mit verändertem Geschäftsmodell.
Die Tonträgerindustrie aber hat ein neues Betätigungsfeld für sich entdeckt, das Urheberrecht. Sie behauptet, damit den Künstlern zu nützen – das Gegenteil ist der Fall. Die wenigsten Künstler haben etwas von den Gema-Gebühren, die Veranstalter für ihre Konzerten bezahlen. Das Urheberrecht ist ein Kampfbegriff der Verwertungsindustrie. Musik aber gab es schon vor der Gründung von Plattenfirmen und der Gema, und Musik wird es auch nach dem Untergang der Tonträgerindustrie geben. Es ist in der Menschheitsgeschichte eine anerkannte Kunstform, Werke nachzuahmen, zu kopieren und weiterzuentwickeln. Warum sollte die Politik ausgerechnet in Zeiten der Digitalisiering einer relativ kleinen Industriesparte die Legitimität eines anachronistischen Systems verschaffen?“
(via Spreeblick)