Parsifal ist die letzte Oper von Richard Wagner und eine sehr persönliche: Sie ist vom Komponisten als „Bühnenweihfestspiel“ bezeichnet worden, handelt von urchristlichen Symbolen und Mythen und wird heutzutage gerne am Karfreitag aufgeführt. Was Christoph Schlingensief in Bayreuth daraus gemacht hat, ist mir auch einige Tage später intellektuell noch nicht ganz klar, aber emotional hatte ich mein Urteil bereits nach fünf Minuten getroffen: Ich fand’s richtig schön scheiße.
Was mich am meisten genervt hat und was mich an vielen modernen Inszenierungen auf Theater- oder Opernbühnen nervt, ist diese blinde Aktionismus, der wahrscheinlich verhindern soll, dass die zappinggewöhnten Zuschauer sich langweilen. So hampelten im Parsifal nicht nur die Sänger so gut wie ständig durch die Gegend, sondern auch noch eine Reihe Statisten, deren Funktion mir persönlich völlig schleierhaft geblieben ist. Dass die dicke Schwarze wohl die sinnliche Weiblichkeit symbolisieren soll, die der Gegenpart zur männlichen Askese ist, um die es im Parsifal auch geht, hab ich kapiert, war auch nicht schwierig. Dass der Hase, der sowohl auf den dämlichen Videoleinwänden auftaucht oder als Stoffpuppe durch die Gegend geschleppt wird, ein Fruchtbarkeitssymbol ist, weiß ich auch, habe es aber nicht mit der Handlung der Oper zusammengebracht. Google weiß allerdings, dass der Hase auch als Symbol für Christus gilt und weil er angeblich mit offenen Augen schläft, auch als Tierbild für den Auferstandenen. Mag ja sein, aber ich kann keine Inszenierung leiden, für die ich Königs Erläuterungen oder das Internet brauche, um sie im Nachhinein zu verstehen. Und selbst wenn man den ganzen Hasenquatsch als sinnvoll betrachtet, macht es mir immer noch nicht klar, warum einige der Knappen wie Stummfilmschwarze geschminkt waren, warum die beiden mongoloiden Kinder auf der Bühne rumgelaufen sind oder was der dicke Alte und seine dünne Gespielin in Alltagsklamotten da zu suchen hatten (bitte formulieren Sie den letzten Satz selbständig politisch korrekt um). Und das Bühnenbild hatte größtenteils viel von bemühtem Studententheater. Die kleine Ecke, die theatralisch mit „Friedhof der Kunst“ überschrieben war und auf der Grabsteine in Form der Mona Lisa , der Campell-Suppendose oder – natürlich – des Hasen von Dürer zu sehen waren, war mehr als affig.
Der Augenblick, in dem ich mit dem Blödsinn geistig abgeschlossen hatte, war zum Ende des ersten Aktes, als eigentlich eine Abendmahlsszene stattfinden sollte. Statt des üblichen Brot und Wein, den die Gralsritter unter sich aufteilen, haben wir den Torso einer dicken Frau zu sehen bekommen, die mit dem Hals zum Publikum stand und der Amfortas mal eben zwischen die Beine griff, um daraufhin eine blutige Hand hervorzuziehen, mit der er Parsifals weißes Gewand betatschte. Nee klar. Macht Sinn. Nach Parsifal wurde früher überhaupt nicht geklatscht (so wie man in der Kirche ja auch nicht klatschen soll), aber im Laufe der Jahre hat es sich eingebürgert, nur nach dem ersten Akt (nach dem Abendmahl) nicht zu klatschen. Das hat in Bayreuth aber keiner durchgehalten, denn sobald der Vorhang fiel, gingen die Buhrufe los, worauf die Gegenpartei natürlich klatschen musste. Ich wollte einfach nur viel Alkohol trinken.
Zurück zum vorhin angesprochenen Aktionismus: Auf der Bühne war ständig irgendwas in Bewegung. Wenn es nicht die Akteure oder die Statisten waren, flackerten die diversen Videowände oder es wurden aus der Decke Fahnen oder Stoffbahnen mit mir nicht bekannten Symbolen herabgesenkt, um kurz danach wieder sinnbefreit zu verschwinden. Es gab wirklich keine einzige Sekunde, in der mal nichts passierte in den knapp sechs Stunden Aufführungsdauer. Und das hat mich persönlich abgrundtief genervt. Es mag mit meinem Glauben zusammenhängen, dass ich etwas allergisch auf einer derartige Missachtung des Textes (also des Inhalts) reagiere. Parsifal ist ein christlich motiviertes Werk, und es gibt genügend Textpassagen, die eindeutig in ihrer Bedeutung sind. Ich sehe nicht viel Spielraum – im Gegensatz zu anderen Opern von Wagner, die so allgemein gehalten sind, dass man sich an immer neuen Interpretationen versuchen kann. Besonders der Ring wird gerne für alles und jede politische Stimmung verwandt, und meistens passt das auch noch. Natürlich will ich im Siegfried keinen Drachen auf der Bühne sehen, denn der kann genausogut eine Metapher sein. Und ich brauche auch kein Schiff im Fliegenden Holländer zu sehen; ich weiß schließlich, worum es geht. Aber den Parsifal vom christlichen Glauben wegzuinterpretieren und ihn zu einem afrikanischen Stammesritual zu machen, halte ich für sehr gewagt bis komplett daneben.
Ich musste mich des Öfteren zwingen, auf die Musik und die Sänger zu achten, denn die gingen ziemlich unter in dem ganzen Brimborium, das auf der Bühne stattfand. Und das nehme ich Schlingensief wirklich übel: dass er scheinbar so wenig Respekt vor dem Material gehabt hat und es einfach als Blaupause für irgendwelche Ideen genutzt hat.
Nach dem Budenzauber war die Inszenierung von Tristan und Isolde von Christoph Marthaler ein absoluter Kontrastpunkt. Leider kein guter; ich würde die Reaktion des Publikums als „freundliches Desinteresse“ beschreiben. Die Bühne war in allen drei Akten so gut wie leer, niemand bewegte sich einen Schritt zuviel, wenige Requisiten lenkten von Musik und Text ab. Was bei Schlingensief viel zu viel war, war bei Marthaler viel zu wenig. Tristan ist eine Oper voll Sehnsucht und dem Tod als einzigem Ausweg – und auf der Bühne war davon rein gar nicht zu spüren. Gerade im zweiten Akt, als die beiden unglücklich Liebenden sich ihre Gefühle gestehen und die Musik pure Leidenschaft ist, passiert auf der Bühne – gar nichts. Isolde darf sich ihre Handschuhe ausziehen und Tristan kurz seinen Kopf in ihren Schoß betten, und das war’s. Und im dritten Akt, als Isolde den verstorbenen Geliebten sieht, schien sie es nicht einmal für nötig zu halten, mal zu ihm hinzugehen, vorbei an dem Sperrholztotenlager, das aussah, als hätte die Pflegeversicherung nicht gereicht. Flackernde Neonröhren blitzten ab und zu auf, was aber auch eher sinnlos daherkam als erläuternd wirkte. Aber: Ich habe selten eine Oper gesehen, bei der der Gesang so viel Raum bekommen hat. Allerdings nur, wenn das Orchester die Sänger gelassen hat; viel zu oft haben die Musiker die beiden auf der Bühne übertönt, was das Publikum auch quittierte: Dirigent Eiji Oue wurde gnadenlos ausgebuht, während Pierre Boulez am Vortag beim Parsifal standing ovations bekam und auch das Orchester ausnahmsweise mal auf die Bühne durfte. (Soweit ich weiß, kommt das Orchester sonst nur am jeweils letzten Aufführungstag einer Spielzeit auf die Bühne.)
Fazit: Auch wenn ich beide Aufführungen nicht brillant fand, hat es sich natürlich gelohnt, nach Bayreuth gekommen zu sein. Es sind einfach die besten Wagner-Sänger weltweit, auch wenn ich den Kurwenal im Tristan fürchterlich übertrieben fand und den Parsifal so lala. Ich habe jede Sekunde im Festspielhaus genossen, wohl wissend, dass es eben nichts Alltägliches ist, hier zu sein. Es werden wieder ein paar Jahre vergehen, bis meine Mama und ich zurück auf den Grünen Hügel dürfen – dann hoffentlich nochmal zum Ring, denn obwohl ich die Musik von Tristan wunderschön fand, bleibt die Götterdämmerung immer noch meine liebste Oper. Und direkt danach kommt der Parsifal – den hat mir auch Schlingensief nicht ruinieren können. Auch wenn er sich verdammt angestrengt hat.