Geschichte gefunden
Die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht an diesen Eintrag, und die Jüngeren lesen ihn mal eben nach. Ich warte.
…
Alle wieder da? Gut. Ich habe die Geschichte gefunden, denn ich habe den diesjährigen Weihnachtsbesuch bei Mama und Papa auch dazu benutzt, gnadenlos auf dem eisigen Dachboden nach meinen alten Lesebüchern zu wühlen. Diese Geschichte geht mir seit 30 Jahren nicht aus dem Kopf – und hier ist sie. In voller Länge. Wobei ich ahne, dass sie aus einem Roman stammt, denn im Lesebuch für die 9. und 10. Klasse taucht sie im Kapitel „Erzählungen, Kurzgeschichten und Romane“ auf. Sie heißt „Eine Tür öffnen“ und stammt von Günther Weisenborn.
„Und dann kam der Tag, an dem wir zum ersten Mal ohne Begleitung das Zuchthaus verließen, drei politische Kameraden vom Gefangenenkomitee: Bäckerfranz, Paul und ich. Wir gingen einfach bummeln. Mit federnden, leichten Schritten in weichen Lederschuhen, die unsere eigenen waren. Die Anzüge schmiegten sich uns an und waren leicht und trocken, nicht schwer und immer feucht wie die Zuchthäuslerkluft. Bei jedem Schritt fühlte ich das herrliche Leinenhemd, direkt auf der Haut. Wir waren rasiert, gebadet, trocken und ausgeschlafen. Und das Sonderbarste war, wir wussten nicht richtig zu gehen. Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Die kleinen Entschlüsse des täglichen Lebens mussten erst wieder geweckt werden nach jahrelangem Schlaf. Es ging keiner hinter uns her, dessen Weg wir marschieren mussten. Und dann die Zeit, dieser betäubende Reichtum an Zeit, an goldenen Minuten auf unserem Gang.
Wir konnten stehen bleiben.
Wir konnten an ein Schaufenster treten.Ich tat es, und irgend etwas in mir wartete mit angelegten Ohren, insgeheim lauernd auf einen Anschnauzer. Es kam keiner!
Wir traten in einen Laden, um nach Schreibpapier zu fragen. Es gab sich, dass ich als erster wieder herausging. Im Laden blieb ich vor der Tür stehen und wartete gewohnheitsmäßig darauf, dass ein Aufseher die Tür aufschloss. Dann erst wurde mir klar, dass ein Mensch seine Türen selber öffnet.
Dieser himmlische Genuss, eine Tür öffnen zu dürfen.“