Real American Targets
Schon komisch, wie schnell man von Hamburg nach Indiana kommt. Jedenfalls per Geruch, Geräusch oder Gefühl.
Manchmal reicht der Geruch von Chlor, und ich muss an Karls Küche denken und daran, dass ich mich immer vor einer Gasexplosion gefürchtet habe, sobald er den Herd angemacht hat. Das Geräusch von Pokerchips lässt mich an die fiesen Abende denken, die wir mit seinem Freund Tom und seinem Bruder und viel zu viel Budweiser verbracht haben und an denen ich wirrste Varianten von stud poker gelernt und bis heute behalten habe. Und bei jedem Becher eiskaltem Ben & Jerry’s in meiner Hand denke ich an meinen ersten Besuch in einem amerikanischen Supermarkt, bei dem ich fast in die Kühlschränke gekrochen bin, so sehr hat mich die Größe der Teile beeindruckt.
Und manchmal bekommt man sogar alles auf einmal. Einen Geruch, ein Geräusch, ein Gefühl.
Wir hatten gestern in der Agentur unsere so genannte Unitrunde. Dabei wurde unser Team von den Cheffes an einen uns vorher nicht bekannten Ort geführt, wo wir dann uns vorher nicht bekannte Dinge tun würden. Wir trabten also gespannt durch die Hamburger Innenstadt – Thalia Theater? Müssen wir Text lernen? Kunsthalle? Malen? Oder gucken wir uns bloß die Baustelle der Europa-Passage an? –, bis wir vor einer unscheinbaren Tür stehenblieben, die, glaube ich, niemandem von uns jemals aufgefallen war. Aber die Aufschrift an der Tür war deutlich: Hanseatic Gun Club.
Wir würden in der Gegend rumballern dürfen. Mit echten Knarren und scharfer Munition. Der Alptraum jedes Zivildienstleistenden.
Sobald ich das Türschild gelesen hatte, hatte ich ein Grinsen im Gesicht, das den ganzen Nachmittag nicht wieder wegging. Und als ich die automatische Pistole in der Hand hatte, war alles wieder da: die Erinnerung an die Nachmittage mit Karl und Tom auf einer shooting range, drei Sandbahnen, die wie selbst geschaufelt aussahen und sich malerisch direkt hinter einen Campingplatz mitten in der Pampa schmiegten. Meine anfängliche Angst vor den Knarren, die Tom zu dutzenden aus seinem Waffenkoffer holte (stilecht mit NRA-Aufkleber und “Guns don’t kill people. People kill people”-Glückskeksweisheit). Meinen Respekt, den mir die beiden vermittelten, indem sie mir jeden Hebel an jeder Waffe erklärten, bevor ich sie überhaupt anfassen geschweige denn laden durfte. Und dieses unglaubliche Gefühl, als ich zum ersten Mal eine Waffe abgefeuert habe.
Als der Plan aufkam, mal auf die shooting range zu fahren, um mir das ultimative Touri-Erlebnis zu bescheren, hatte ich mich mit Händen und Füßen gewehrt. Ich war wirklich nicht wild darauf, mit echter Munition in der Gegend rumzuknallen und hatte, ehrlich gesagt, auch ein bisschen Schiss. Die beiden haben locker gesagt, wenn du nicht willst, dann musst du nicht. Guck erstmal zu, und wenn du doch Bock hast, sag Bescheid.
Also habe ich zugeguckt, wie die beiden Toms Arsenal scharf gemacht haben. Als ich fragte, worauf sie denn überhaupt schießen würden, grinste Tom nur, öffnete den Kofferraum seines Autos und zerrte drei Müllsäcke voll leerer Bierdosen heraus: “Real Americans aim at real American targets – Budweiser cans.”
Karl und Tom bestückten die Sanddüne der 25 Yards-Bahn (die 50er und 100er waren zu meinem Blindfisch-Glück besetzt), stellten sich in Positur und begannen, die Dosen abzuschießen. Natürlich dauerte es nur ungefähr 30 Sekunden, bis ich es auch mal versuchen wollte. Und so habe ich meine erste Waffe in die Hand genommen: eine halbautomatische .40er. Sie war schwerer als ich erwartet hatte, obwohl sie noch nicht geladen war. Ich muss gestehen, ich war von der Optik ziemlich beeindruckt. Innerhalb einer Sekunde war das Unbehagen, eine tödliche Waffe in der Hand zu haben, der Faszination gewichen, ein Stück absolut präzise, kühle Mechanik zu erleben.
Ich habe das Magazin mit den Kugeln bestückt, habe mir nochmal das Zielen erklären lassen, das Entsichern, den Abzug, das Schießen. Tom und Karl hatten mir auch erzählt, dass der Rückstoß sehr stark sei und dass ich mich nicht erschrecken solle. Hab ich natürlich trotzdem, denn auf dieses Gefühl, dass mir gleichzeitig beide Hände hochgerissen und die Schultern zurückgedrückt wurden und es auch mit Ohrstöpseln noch höllisch laut knallte, war ich trotz aller Erläuterungen nicht vorbereitet. Aber nach dem ersten Schreck war ich angefixt. Ich habe wie Dirty Harry breitbeinig im Sand gestanden und wie blöde Bierdosen weggeknallt. Und meine Fresse, hat das einen Heidenspaß gemacht.
Im Laufe meines Urlaubs waren wir noch mehrmals auf der range, teils mit noch mehr Bierdosen (selbst geleert, selbst abgeschossen), teils mit Zielscheiben, die wir in einem Anglerladen beim Campingplatz gekauft haben. Ich bin der .40er treu geblieben, habe aber auch noch mit einem .38er Revolver rumgeballert und der Desert Eagle, eine .44er, die so schwer war, dass ich nach jedem Schuss die Arme runternehmen musste. Dieses Erlebnis und das Gefühl, das ich mitgenommen habe, waren einmalig: sehr intensiv, sehr besonders und sehr amerikanisch.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses Gefühl nochmal erleben würde, jetzt, wo Karl nicht mehr mit mir auf Bierdosen schießen kann. Aber komischerweise hat es sich fast so angefühlt, als wäre er gestern dabei gewesen. Ich habe ihn gespürt, als ich zum ersten Mal die Pistole und danach den Revolver in die Hand genommen und erstaunt festgestellt habe, dass sich meine Hände an das Gefühl sofort erinnern, eine Waffe zu halten. Ich hatte keine Angst mehr vor dem Rückstoß und dem Knall, weil ich wusste, was kommt. Und ich habe mich sofort wieder an den seltsamen metallischen Geruch erinnert, der danach an den Händen klebt.
Es war schön, mal wieder nach Indiana zu kommen, auch wenn der Kloß im Hals im Laufe des Abends immer dicker wurde.
Hab mir ne gute Agentur ausgesucht.