Kunst gucken: Der Kontext zählt

(Dieser Eintrag steht auch in meinem Zweitblog, wo die Bilder ein bisschen größer sind.)

Die Hamburger Kunsthalle baut um, weswegen die Sammlung derzeit nur eingeschränkt zugänglich ist – und das ist überraschenderweise ziemlich großartig. Denn die KuratorInnen haben sich anscheinend ihre Lieblinge (und die des Publikums) rausgepickt, neu angeordet und damit wunderbare Blickwinkel geschaffen.

Dass sich ein Bild anders anfühlt bzw. ansieht, wenn es auf einem anderen Hintergrund hängt, ahnt jeder, der mal mit Instagramfiltern rumgespielt hat. Es kommt aber auch auf die Umgebung an, die Beleuchtung, die Nachbarschaft und wenn’s nach mir geht, auch die Ecke des Raumes, in der das Werk hängt oder steht. Als ich das erste Mal in der Alten Pinakothek war, wollte ich nur zu den Raffaels. Die drei hingen damals in einer Ecke; wenn man aus der Richtung der Franzosen kam, war links von der Tür zum Saal der da Vinci (und noch irgendwas), dann hörte die Wand auf, die lange Seitenwand begann und auf ihr hingen meine drei Schnuffis. Direkt nach ihnen kam der Durchgang in die Kabinette. Sie hatten also quasi eine Wand für sich, wenn auch nur eine recht kurze. Eine der ledernen Sitzinseln stand direkt vor ihnen, so dass man Muße hatte, sie sich genau anzuschauen.

Seit einiger Zeit hängen die Raffaels aber fast genau gegenüber von der Position, auf der ich sie kennengelernt habe. Sie hängen nun rechts in der Mitte der langen Wand, die von keiner Tür unterbrochen wird, sind also zentral im Raum angeordnet – aber sie gehen meiner Meinung nach unter, weil rechts und links von ihnen noch andere Bilder hängen. Ich muss mich inzwischen immer selber bremsen, nicht an ihnen vorbeizuschlendern, wozu lange Wände mich immer verführen. Ich mag kleinere Säle lieber, die mit Ecken und Türen automatisch Zäsuren einfügen und mich innehalten lassen.

Im letztem Semester hatte ich den Kurs Spaces of Experience (ich schrieb darüber), in dem wir durch mehrere Museen gingen und uns ausnahmsweise nicht die Kunst, sondern die Art ihrer Präsentation anschauten. Genau über die Raffaels habe ich mit einer Kommilitonin diskutiert: Sie fand, sie wirkten jetzt weniger gequetscht und hätten den Raum, der ihnen zusteht, was ich, wie gesagt, ganz anders empfinde. Ich mochte die kleine Extraecke, die sie hatten, denn diese betonte für mich ihre Einzigartigkeit. Natürlich ist jedes Werk einzigartig, das in dem Raum hängt, aber die Raffaels sind für mich etwas Besonderes und eben diese Besonderheit konnte ich allein durch ihre Anordnung spüren. Jetzt sind sie drei Bilder unter vielen.

Ein anderes Beispiel aus der Alten Pinakothek: unser aller Liebling, der kleine Dürer im Pelzrock. Der hing vorher direkt neben einer Tür, so dass man selten ungestört vor ihm stehen konnte, weil dauernd Bewegung neben einem war. Wenn man von den Franzosen kam, übersah man ihn auch gerne, weil er rechts vom Durchgang hing, was man kaum im Blick hat, wenn man in den Raum reingeht. Seit einiger Zeit hängt er in der Blickachse des gesamten Flügels, man ahnt ihn quasi schon fünf Räume im voraus. Das ist einerseits toll, andererseits geht er jetzt neben den Aposteln total unter, die ungefähr viermal so groß und deutlich farbintensiver sind. Und obwohl ich Sitzgelegenheiten direkt vor Bildern mag, ist die Insel hier eher deplatziert, weil genau vor dem Bild eigentlich immer wer steht, so dass man es im Sitzen sowieso nicht genießen kann.

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Richard Serra, „Spot On“ (1996)
Wandmalerei, Ölkreide auf Dispersionsfarbe (paint stick), geschmolzen und aufgespachtelt, entstanden in der Woche vom 11.–15.03.1996
174 x 184 cm
Hamburger Kunsthalle/bpk
© VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Photo: Kay Riechers

Mit diesem Wissen im Hinterkopf besuchte ich gestern die Kunsthalle, die, wenn ich ganz ehrlich sein darf, nicht unbedingt mein Liebling ist. Ich mag die Beleuchtung nicht, ich mag die Fußböden nicht, und wenn da nicht meine Herzblätter wie Leibl und Lehmbruck hängen und stehen würden, wäre ich deutlich seltener da. Wahrscheinlich hat mich deshalb die eingeschränkte Präsentation so umgehauen, weil sie deutlich moderner und weniger beliebig wirkt.

Ich kam aus dem dritten Stock der Galerie der Gegenwart, wo noch bis zum 18. Januar eine sehr gute Ausstellung mit Stillleben von Max Beckmann läuft (kann ich sehr empfehlen, los, angucken!), stieg aus dem Fahrstuhl – und stand erstmal vor einem Fernseher. Darauf lief neckischerweise Florian Slotawas Museums-Sprints 2000–2001, ein 13-minütiger Film, in dem ein Mann in Hemd und Shorts zu sehen ist, wie er durch diverse Museen der Republik rennt. Ich blieb eigentlich nur deshalb stehen, weil gerade das Treppenhaus der Alten Pinakothek zu sehen war – und verharrte dann grinsend ungefähr zehn Minuten, während der Sprinter noch durch die Hamburger Kunsthalle, das Freisinger Diözesanmuseum, das Fridericianum in Kassel und andere Ausstellungsräume rannte. Während ich dem stummen Film zuschaute, hörte ich schon das Werk im nächsten Raum: On Kawaras One Million Years, bei dem zwei Stimmen eine Jahreszahl nach der anderen runterbeten. Betritt man den Raum, in dem die Stimmen erklingen, steht man auch dem Werk gegenüber, das der Sonderpräsentation ihren Namen gegeben hat: Spot on von Richard Serra. Alleine die drei Werke in ihrer Zusammenstellung haben den Besuch schon gelohnt.

Den Kawara hört man übrigens auch im anschließenden Raum, quasi dem ersten des eigentlichen Rundgangs. Dort hängen meine Lieblinge aus dem 15. Jahrhundert, und ich fand es sehr spannend, direkt aus der Moderne fünfhundert Jahre zurückgeworfen zu werden – aber die Moderne noch im Ohr zu haben.

Der nächste Raum ist recht klein, aber das passt ganz wunderbar zum zentralen Bild. Dort hängt nämlich das Kunstkammerregal von Johann Georg Hinz, das quasi vorausahnen ließ, was einen beim Rundgang erwartete: eine kleine Schatzkammer nach der anderen. Wo die Sammlung sonst brav nach Jahrgängen, Schulen und/oder MalerInnen geordnet hängt, hängt sie nun eher thematisch. Ganz aufgegeben wird die Chronologie nicht, aber zwischendurch gibt es immer wieder Räume, die Bilder neu verknüpfen und, ich wiederhole mich da gerne, das hat mir ausgesprochen viel Spaß gemacht. Es kam mir weniger verschult, sondern verspielter, vergnügter vor, weniger „Ehrfurcht vor der Kunst, bitte“, mehr „Guckt mal, was wir alles Tolles haben“.

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Johann Georg Hinz, „Kunstkammerregal“ (1666)
Leinwand, 114,5 x 93,3 cm
© Hamburger Kunsthalle/bpk
Photo: Elke Walford

Da darf ein Porträt von Paula Modersohn-Becker neben einem von Anita Rée hängen – der Picasso zwischen ihnen ist mir fast nicht aufgefallen, so gerne habe ich die beiden Damen betrachtet –; da haben meine geliebten Kathedralen-Bilder von Hendrik van Steenwijck und Gerard Houckgeest endlich mal Platz und hängen nicht gequetscht in einem Seitenkabinett, sondern zentral an einer langen Wand, was viel besser zu ihren gotischen Gewölben und dicken Säulen passt; da gibt es einen Raum mit Porträts der Moderne, der die Stilvielfalt zeigt, und einen Raum mit Landschaften, wo kleine und größere Werke nebeneinander hängen, ohne sich in die Quere zu kommen, sondern sich ergänzen. Für mich fast am schönsten: Die Bilder von Caspar David Friedrich wirken endlich mal weniger verwaschen, weil sie nicht mehr auf dem ollen Hellgrau hängen und mit Raumlicht beleuchtet sind, sondern stattdessen edel auf tiefem Graublau durch gezielte Spots erstrahlen.

Für mich etwas überraschend war die neue Hängung der Brücke-Jungs: Normalerweise ist das der Raum, den ich am wenigsten mag, denn er ist riesig, und man wird quasi zugeschmissen mit Kirchner, Nolde, Pechstein und Schmidt-Rottluff. Ich kann mich in dem Raum nie auf ein Bild konzentrieren, weil um mich rum 30 weitere um Aufmerksamkeit winseln. Hier hängen deutlich weniger Werke, und auf einmal kann man zwischen ihnen atmen.

Aber das Tollste war diese Blickachse, die mein beknacktes iPhone-Foto nicht anständig wiedergeben kann, weswegen ihr wirklich und echt jetzt mal selbst in der Kunsthalle vorbeigehen müsst, denn dieser Raum ist schlicht großartig:

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Das meinte ich mit „Guckt mal, was wir alles Tolles haben“. Da komme ich nichtsahnend um die Ecke gebogen, schaue nach links – und sehe in einem Raum meinen Lieblingslehmbruck von 1918, den wunderschönen Pierre de Wiessant (1885) von Rodin und zwischen ihnen, ganz selbstverständlich, einen Beuys von 1970. Und auf einmal ist Beuys nicht mehr der verkopfte Künstler, den man nur versteht, wenn man 200 Seiten Ausstellungskatalog durchgearbeitet hat. Auf einmal hat man einen Zugang, weil sein Filzanzug hier zwischen zwei menschlichen Abbildern hängt, die ihn erden und sinnhaft werden lassen. Nicht mehr auf dem Bild: Ganz rechts steht der wunderbare goldglänzende Kopf der Skulptur 23 von Belling (1923), und links stehen eine Holzmadonna aus dem 15. Jahrhundert und ein Giacometti einträchtig nebeneinander. Fünfhundert Jahre Kunstgeschichte in einem Raum – und es passt.

Ich habe mich wahrscheinlich ziemlich zum Affen gemacht, weil ich mich von dem Raum und seinen Achsen gar nicht losreißen konnte und ich deswegen dauernd rein- und rausgerannt bin. Wenn man die Augen zusammenkneift, sieht man im Bildhintergrund schon den nächsten Raum, wo sich noch mal Richard Serra die Ehre gibt, dieses Mal mit Measurements of Time, eine Bleischüttung, die ich auch sehr gerne mag und die 1996 speziell für die Galerie der Gegenwart angefertigt wurde. Auch diese Kombination mochte ich gerne: Die feste Installation, vor der sich neue Werke anordnen. Weil sie’s können. Danke, Kunsthalle. Punktlandung.