Tagebuch 1. September 2015 – Zwei Welten
Immer noch kein Briefing, immer noch keine Möglichkeit, Geld zu verdienen.
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Dafür eine, Geld auszugeben. Am Montag abend fuhren die ersten Flüchtlingszüge im Münchner Hauptbahnhof ein, die von Ungarn aus über Österreich durchgewunken wurden. In meiner Twittertimeline zwitscherten einige Helfer, die spontan vor Ort waren. Am Dienstagmorgen war mir dann auch klar: Jetzt ist das Flüchtlingsthema kein abstrakter Spiegel-Titel mehr für mich, keine Zeit-Reportage, kein Hashtag, kein Twibbon. Jetzt sitzen acht Radlminuten von mir entfernt Menschen, die nur noch das besitzen, was in einen Rucksack passt, und die Hilfe brauchen.
Im Drogeriemarkt so viel eingekauft wie ich tragen konnte, zum Hauptbahnhof gefahren und alles abgegeben. Ich bin nicht lange vor Ort gewesen, ich wollte mich nicht wie eine Katastrophentouristin fühlen; ich war froh, dass ich einer Helferin einfach ein paar Plastiktüten voller Hygieneartikel in die Hand drücken und wieder nach Hause konnte. Nach Hause. In eine Wohnung, zu einer Dusche, einem vollen Kühlschrank, zu Büchern, einem Bett, Privatsphäre. Totaler Allgemeinplatz, aber: Ich habe es gestern noch mehr als sonst zu würdigen gewusst.
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Abends Kontrastprogramm: Geschmackssache Heimat, ein Abend mit deutschem Wein und ein bisschen Futter dazu. Stevan bloggte über die Hamburger Ausgabe, woraufhin Frau Kaltmamsell mich fragte, ob ich in München dabei wäre – aber natürlich!
Ich war noch nicht ganz in Stimmung, aber schon das erste Glas Sekt machte gute Laune. Den Reichsrat von Buhl hätten wir beide nicht als Riesling erkannt, waren aber äußerst angetan. Zum ersten Gang gab’s dann einen trockenen Bechtheimer Silvaner (2013, 12€), der kaum trockener sein könnte, dazu viel Sauerness im Mund. Es war keine Säure, es war sauer. Aber gut sauer, angenehm frisch. Zum Hauptgang wurde uns zunächst ein laut Winzer noch nicht ganz fertiger 2013er Sauvignon Blanc serviert, der müsse eigentlich noch so fünf, sechs Jahre liegen, aber er fände den jetzt auch schon ganz spannend. Frau Kaltmamsell weigerte sich nach einem Glas, den weiterzutrinken, und auch ich war nicht ganz überzeugt. Er schmeckte, als ob man nasse Weinblätter ableckte, aber ich glaube dem Winzer aufs Wort, dass der in ein paar Jahren ein kleines Kracherchen sein könnte.
Der Sommelier des Abends, Justin Leone aus dem Tantris (ich so: Ehrfurcht!), erzählte dann was über den Wein, auf den ich mich schon den ganzen Abend gefreut hatte: einen 2011er Monzinger Halenberg Riesling von Emrich Schönleber. Von diesem Weingut stammt mein absoluter Lieblingsriesling; den trank ich im reinstoff und bezahlte danach mit freudigem Herzen 60 Euro für eine Flasche. Jeden Cent wert. Leone: „Riesling braucht Kampf, schwierige Böden, kaum Wasser, dann kommt da was Gutes bei raus.“ Unterschreibe ich sofort. Der 2011er war die kleine, dünne Schwester des 2008er, den ich so liebe: Der Geschmack geht schon in genau die Richtung, die ich kenne, ist aber noch feiner. Ich mag die Rieslinge gerne, die sich so richtig breit machen in Mund; das kann der hier noch nicht, aber auch von dem würde ich sofort eine Kiste ordern. (19€ die Flasche.)
Zum Schluss kamen noch zwei Rotweine, zu denen ich gerne ein dunkelschokoladiges Dessert gehabt hätte, aber da kam nix mehr. Schon der erste löste Verzücken am Tisch aus: ein 2013er Frühburgunder für entspannte 9,50€ die Flasche. Der roch zuerst nach Gouda, dann nach Vanille, und im Mund war zuerst viel Vanille und nasses Moos, dann wurde die Süße weniger und der Wein wurde schwerer. Wunderbar. Aber der Höhepunkt kam zum Schluss, jedenfalls für mich: ein 2011er Spätburgunder, der mein Herz schon mit der ersten Nase eroberte und mich danach kurzerhand flachlegte. Ein bisschen Pferd auf Himbeerwölkchen und dann nur noch fruchtiges, tiefes Rumschmeicheln bis in die letzte Gaumenecke, wo der Wein ein bisschen piekst. Der war genau meiner. (27€)
Die Location gefiel mir gut, auch wenn es mir deutlich zu laut war; ich bin inzwischen zu alt, um meine Gesprächspartner den ganzen Abend mit erhobener Stimme erreichen zu wollen. Vom Essen war ich allerdings ein wenig unterwältigt. Der erste Gang waren marinierte rote Bete mit Orangenfilets, die eher lieblos aufs Tellerchen gehäuft waren, der Hauptgang dann immerhin die legendären und durchaus wohlschmeckenden Spare Ribs mit Kartoffelpüree und Ratatouille. Das ist aber Meckern auf hohem Niveau, denn die ganze Sause hat nur 30 Euro gekostet, und alleine für die wirklich tollen Weine hat sich’s gelohnt. (Für die charmante Begleitung ja sowieso.)