Was schön war, Freitag, 16. Dezember 2016 – Depotarbeit

Gestern stand ich mit übermenschlicher Anstrengung um 6 auf, um pünktlich am Zug zu sein, der mich um 7.55 Uhr in Richtung Rosenheim bringen sollte. Eine Stellwerkstörung sorgte dafür, dass wir erst gegen 8.35 Uhr losfuhren. Fun fact: Der nächste regelmäßige Zug gen Rosenheim wäre um 8.44 Uhr gegangen, und ich hätte eine knappe Stunde länger schlafen können. So kam ich etwas zu spät zu meinem Termin in der Städtischen Galerie, wo die mit mir verabredete Mitarbeiterin aber sehr entspannt war.

Sie zeigte mir im Depot einige der Bilder von Weldens, die ich noch nicht im Original gesehen hatte. Als Abbildung auf einer langen Liste aller von Weldens, die die Galerie besitzt, kannte ich sie seit dem letzten Semester, aber jetzt wollte ich sie mir endlich mal richtig anschauen. Das hätte ich schon vor Monaten machen sollen, wie mir gleich beim ersten Bild auffiel, das mir von den Stellwänden genommen wurde, damit ich die Rückseite anschauen konnte. Denn dort fand sich in von Weldens Handschrift mal wieder die öminose Mitgliedsnummer für die Reichskammer der Bildenden Künste, die es laut Bundesarchiv nicht gibt. Bisher dachte ich, der kleine Hallodri hätte sich das nur in den Anfangsjahren des „Dritten Reichs“ erlaubt, diese Angabe einer meiner Meinung nach ausgedachten Nummer, aber dieses Bild stellte er 1944 aus. Langsam glaube ich, dem Mann war sein Umfeld völlig egal, Hauptsache, er konnte alles bemalen, was ihm unter die Finger kam. F. gestern auch so, nachdem ich ihm von diesem Fund erzählte: „Wenn seine Kunst doch nur so spannend wie seine Persönlichkeit wäre.“ Yup.

Zum ersten Mal wurden mir dann die Grafikschubladen geöffnet. Ich sah größerformatige Radierungen als die, die ich bisher bei der Tochter gesehen hatte und konnte sie auch datieren, einfach weil ich inzwischen so viele andere Werke von ihm durchgesehen hatte. Das fühlte sich ziemlich gut an. Ich blätterte durch Litografien und Zeichnungen und wurde dann auf eine Mappe hingewiesen, die sich ohne Inventarnummer im Bestand der Galerie befindet. Die Mitarbeiterin wusste nicht, wo die herkam, aber in ihr lagen einige Originalzeichnungen von Weldens, einige Kopien, Zeitungsausschnitte über ihn bzw. seine Ausstellungen, einige ausgerissene Seiten aus der Jugend, für die von Welden zwischen 1934 und 1940 Illustrationen erstellt hatte, und: zwei Schwarzweißfotos von zwei Kniestücken. Eins davon zeigt seine Mutter, das Bild war mir aus der Literatur bekannt. Das zweite nicht, und es ruiniert ziemlich meine These aus der letzten Hausarbeit, in der ich vermutete, dass von Welden nur für die GDK NS-ideologische Kunst produziert hätte. Das Foto zeigt einen Mann in Wehrmachtsuniform, und ich behaupte, es ist ein Selbstporträt. Stilistisch ähnelt es der Gestaltung der Mutter sehr, die Hände, die flächige Ausgestaltung des Gesichts, selbst als Schwarzweißaufnahme ist die Ähnlichkeit unverkennbar. Da ich von ihm diverse Selbstporträts kenne, würde ich vermuten, dass auch dieses Bild ihn selbst zeigt, aber dafür müsste ich es etwas genauer anschauen können als auf einem kleinen Foto. Seine charakteristische Hakennase und Kinnpartie lassen aber stark darauf schließen.

In der Mappe befanden sich auch einige Einladungen zu Ausstellungen von ihm, und eine war tollerweise adressiert, nämlich an einen Herrn Gustav de Baranyai-Lörincz. In den Grafikschubladen hatte ich gerade einige Minuten vorher eine kleine Zeichnung von Weldens gesehen, die mit „Kriegsweihnacht 1940“ unterschrieben war und „dem lieben Freund u. Kollegen Lörinz“ gewidmet war. Von Welden schreibt „und“ in seiner Korrespondenz nie aus; jetzt weiß ich, dass er das auch auf Bildern nicht tat. Ich weiß aus seinen Briefen auch, dass seine Rechtschreibung, vorsichtig ausgedrückt, fantasievoll war, was auch daran liegen könnte, dass er die ersten 15 Lebensjahre in Frankreich verbracht hatte. Insofern würde ich nicht über das fehlende C im Nachnamen stolpern. Der Künstler de Baranyai-Lörincz hatte kurz vor von Welden an der Akademie in München studiert (1914–1920, von Welden 1920–1925), vielleicht lernten sie sich dort bereits kennen. Und: Es gibt einen Nachlass von ihm, unter anderem mit Korrespondenz, und der liegt, HA! im Bayerischen Hauptstaatsarchiv vor meiner Nase. Ich geh mal wieder wühlen, vielleicht finde ich dort noch weitere Hinweise auf diese Künstlerfreundschaft und wo vielleicht das Wehrmachtsbild abgeblieben ist.

Nach der Arbeit an den Bildern durfte ich noch durch das Inventarbuch blättern. Ich war erstaunt über die hohen Preise gewesen, die von Welden 1944 in der Galerie erzielt hatte. Gestern fiel mir dann noch etwas anderes auf: die reine Anzahl von Bildern, die in diesem Jahr angekauft wurden, nicht nur von Weldens. Die Galerie öffnete 1937 mit einem Grundstock an Bildern aus der Max-Bram-Stiftung. 1940 wurden vier Bilder zu Preisen zwischen 40 und 600 RM angekauft, 1941 sieben Bilder (130–600 RM), 1942 fünf (220–600 RM), 1943 drei zwischen 250 und 2000 RM, wobei die 2000 für Hans Müller-Schnuttenbach ausgegeben wurden, einen der großen Namen der NS-Kunst (57 Bilder auf der GDK), den heute keiner mehr kennt und von dem die Galerie den Nachlass verwaltet – über 1.300 Bilder. Also jahrelang sehr moderate Ankäufe zu damals durchschnittlichen Preisen. 1944 hingegen wurden 20 Bilder gekauft; drei zu Beginn des Jahres zu ähnlichen Preisen wie vorher (wieder ein hochpreisiger Müller-Schnuttenbach dabei), im August dann ein Schwung an Bildern aus der Chiemgau-Ausstellung, einer Wanderausstellung, die Chiemgau-Künstler über die Region hinaus bekanntmachen sollte und die vom Kunstverein Rosenheim veranstaltet wurde, der dafür, soweit ich weiß, auch von staatlicher Seite Unterstützung bekam. Zehn Bilder dieser Ausstellung wurden zu Preisen zwischen 500 und 1800 RM erworben, weitere sieben Bilder im Oktober aus einer Ausstellung der Kameradschaft der Künstler München in Rosenheim zu Preisen zwischen 1100 und 5500 RM. Ein letztes Bild wurde für 1200 RM ernsthaft noch am 25. April 1945 gekauft; den Künstlernamen kann ich trotz Hilfsmittel nicht entziffern, aber vielleicht kann meine Timeline das (Edit noch vor dem Veröffentlichen des Eintrags: Meine Timeline kann alles). Zusammengefasst also: Kurz vor Schluss wurde richtig Geld ausgegeben für richtig viele Bilder. Meine momentane Theorie wäre, dass man aus der Inflation, die dem Ersten Weltkrieg folgte, gelernt hatte und sich Ende 1944 eine Niederlage abzeichnete, also gab man das Geld aus, solange es noch etwas wert war. Warum man die Künstler so exorbitant gut bezahlte, weiß ich allerdings nicht.

Zum Abschluss durfte ich noch die Karteikarten für Leos Bilder einsehen und fotografieren, so dass ich jetzt von jedem Bild eine anständige Dokumentation habe. Das war ein sehr lehrreicher und aufschlussreicher Besuch. Gerne wieder.

Abends besinnliches Adventsbierchen beim ehemaligen Mitbewohner. Ebenfalls lehrreich, aber deutlich lustiger. Auch gerne wieder.