Leserinnenpost

Ich verlinkte gestern den Zeit-Artikel über Sigmund Jähn und erwähnte, dass die DDR ein fremdes Land für mich war und vielleicht geblieben ist. Daraufhin bekam ich eine lange Mail, die ich mit Zustimmung der Verfasserin veröffentlichen darf. Wir kennen uns ein wenig – die Dame hat ein Porträt über mich geschrieben – und wir telefonierten noch, nachdem ich per Mail fragte, ob ich ihre Zeilen bloggen durfte. Danach glaube ich: Wir sollten mehr miteinander reden. Nicht die AfD-Anhänger mit ihren Gegnern, das halte ich inzwischen für rausgeschmissene Zeit, aber: BRD-Bürger*innen mit DDR-Bürger*innen. Schreibt DDR-Blogs! Erzählt mir von eurem Land und von euren Biografien!

Mir ist außerdem aufgefallen, dass ich, wenn ich die DDR als Ausland zähle, was sie ja war, sie öfter besucht habe als jedes andere Land außerhalb meines eigenen. Ich war öfter in der DDR als in Frankreich, den USA oder Dänemark. Ich verlinke mal einen Uralt-Blogpost, der das etwas illustriert.

Aber jetzt zur Leserpost, die ich sehr spannend fand. Darin wird auch die Landflucht beschrieben, die mir in diesem Ausmaß nicht klar war. Im letzten Spiegel stand dazu ein aufschlussreicher Artikel, leider momentan nur als Spiegel-Plus lesbar.

Liebe Frau Gröner,

ich habe wie Sie den Text von Jana Hensel in der ZEIT gelesen. Sigmund Jähn: das war ein Begriff in meiner Schulzeit. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er quasi aus der Region stammt. (Meine Schule trug den Namen „Juri Gagarin“. Der Musiklehrer hatte ihm zu Ehren ein Lied komponiert, das zu den Appellen gesungen wurde. Es begann so: „13. April des Jahres ‚61, die ganze Erde schaut auf…) Zurück zu Morgenröthe-Rautenkranz (Jähns Geburtsort) – damit verbinden viele Ostdeutsche Raumfahrt, Weltall, unerreichte Weiten. (Dass das Dorf ein Kälteloch ist und in the middle of nowhere liegt, ist unerheblich.)

Sie schreiben, die DDR war ein fremdes Land für Sie. Vielleicht ist es das auch geblieben. Mir war die Bundesrepublik nicht ganz so fremd – hatte ich doch Westverwandtschaft und eine Brieffreundin. Eine Zahnarzttochter, deren Eltern Schweden waren. Schon allein diese Kombi war etwas ganz Besonderes. Leute, die sich einfach so in einem anderen Land ihre Existenz aufbauen konnten, gut Geld verdienten, in der Welt umher reisten und interessehalber uns besuchten. Der erste Besuch fiel genau mit dem Unglück in Tschernobyl zusammen. Irre, wie unterschiedlich die Angst vor Verstrahlung war. Lundbergs waren informiert; wir nicht. (Wir waren recht unbekümmert. Schließlich holte mein Vater täglich Uran aus dem Berg. Ihm fielen weder die Zähne noch die Haare aus, noch hatte er Leukämie oder Lungenkrankheiten. Damals zumindest.)

Was mir von diesen Stippvisiten in Erinnerung blieb, ist der Minderwertigkeitskomplex. Wir konnten nix vorweisen – weder Haus, Auto noch Reisen. Ich habe mich manchmal geschämt. Drei Jahre später kam alles anders. Der Mauerfall ist nach wie vor eines der größten Ereignisse meines Lebens. Dass das alles friedlich und ohne Blutvergießen ablief – das halte ich persönlich für ein Wunder. Selbst nach fast dreißig Jahren zieht es mir die Gänsehaut auf.

Allerdings hat keiner mit dem Affentempo der Wiedervereinigung und ihren Folgen gerechnet. Vom Herbst 1989 bis 1991 fühlte sich das Leben wie ein Schleudergang an. Nix war mehr sicher. Unsere Generation wurde blitzartig erwachsen. Wir regelten teilweise das Leben unserer Eltern: manchen Leuten fehlte einfach der Schneid (weil Arbeit weg etc.). Woher sollten sie den so fix herhaben? Der Großteil lief in der Masse mit. Alles war vorherbestimmt: Schulabschluss, Lehre, wenn es hoch kam Studium, Heirat mit 18,19,20 wegen Wohnung und Familienkredit, Arbeitsplatz ohne großartige Pendelei.) Um die Basics hat sich der Staat gekümmert; wollte man mehr, musste man Mittel und Wege finden. Vieles ging über Dritte; Menschen, die Beziehungen hatten oder wieder Leute an entscheidender Stelle kannten.

Die Kommunikation über Dritte, die Hoffnung, dass jemand von oben das regelt – das eitert einfach nicht heraus. (Die Generation unserer Eltern versucht das immer noch.) Vielleicht kann das helfen, sich der Ostdeutschen Denke anzunähern.

Seit den ersten Pegida-Demos in Dresden (das geht schon seit 2015), frage ich mich, warum hier solche Gedanken Humus finden. Die Masse hat Arbeit. Haben beide Eltern Jobs, ist ein Urlaub im Jahr mindestens drin. Die Bildung stimmt – auch wenn uns hinten und vorn die Lehrer fehlen. Der Spagat Familie-Beruf ist – zumindest auf dem Land – machbar. Auf dem Land: da leben die, die da geblieben sind. Leute, die ziemlich gebrochene Erwerbsbiografien haben, die nicht weggehen wollten, die keinen Schneid hatten, die ihre Wurzeln nicht kappen wollten oder konnten. Die jungen, gut ausgebildeten haben die Flucht ergriffen und tun es noch. Ich weiß, das ist kein typisch ostdeutsches Problem. Die Dimension der Landflucht allerding schon. Was nahezu komplett fehlt, ist meine Generation. Dreiviertel meiner ehemaligen Klasse (Oberschule) weg, dreiviertel meiner Seminargruppe (Fachschule) arbeitet in westdeutschen Kliniken, mehr als die Hälfte meines Abiturjahrgangs weg. Diese Lücke fühlen wir tagtäglich. Umgeben von Senior*innen in beigefarbenen Westen, die auf ihre Jugend zurück blicken, den Wert von Heimat ganz anders definieren als wir und sich nicht als Teil der Gesellschaft sehen, braucht man ein breites Kreuz. Ein sehr breites.

Blitzgescheite, reflektierte Menschen haben es mitunter sehr schwer. Dinge zu hinterfragen, dass das eigene Tun Folgen hat, jeder für sich verantwortlich ist oder Demokratie auszuhalten – das zählt nicht unseren Kernkompetenzen. Die Generation unserer Eltern tut sich damit sehr schwer. Wir, die Mitte der 1970er geborenen, üben uns darin. Täglich.

Vielleicht ist das der Vorsprung, den man in den alten Bundesländern uns gegenüber hat. Nach dem zweiten Weltkrieg zogen in den drei westlichen Besatzungszonen demokratische Verhältnisse ein. Die russischen Besatzer kannten nichts anderes als Diktatur. Während man in der BRD vierzig Jahre Demokratie ausprobieren durfte, sie erlernen konnten, stolperten wir – gewollt – hinein. Ruhiggestellt von DM-Mark und Reisefreiheit hat sich keiner so richtig für die Demokratie interessiert. Abgelenkt von Massenarbeitslosigkeit kümmerte man sich um sich. Nur um sich.

Jetzt, wo wir nahezu Vollbeschäftigung haben, ist das immer noch so. Viele sind sich selbst der Nächste. Gesellschaftliches Engagement findet im Fußballverein, der Feuerwehr oder im Schulförderverein aber kaum in der Flüchtlingshilfe statt. Hauptsache, uns geht es gut und wir können den Wohlstand halten. Globales Denken oder gar Verantwortung – Fehlanzeige.

Dass etwas im großen Ganzen nicht stimmt, merken die Leute seit der Flüchtlingskrise. Auseinandersetzen will man sich damit nicht. „Das sollen die da oben regeln.“ Merken Sie, da ist er wieder der Ruf nach einer dritten Person. Wie sich aber die Ereignisse überschlugen, die Kommunen mit der Unterbringung überfordert waren, auf einmal Leute da waren, die eine geballte Ladung Testosteron mitbrachten bzw. manche deutsche Verhaltensregeln nicht kannten oder ignorierten, wuchs der Frust. „Warum soll ich im Bus bezahlen und der Ausländer nicht?“ Fünf Euro für ein Ticket sind für mich kein Thema; für manch ältere Dame mit Mindestrente schon. Das sei nur als Beispiel genannt. Aber das Aussitzen unserer Sächsischen Staatsregierung trug dazu wesentlich bei. Es entschuldigt nicht das Verhalten der Sachsen/ Sächsinnen, die wieder mitlaufen und simple Lösungen für ein komplexes Problem haben wollen.

Ich persönlich ziehe vor dem jetzigen Ministerpräsidenten Kretschmer den Hut. Er soll binnen eines reichlichen Jahres die Kohlen aus dem Feuer holen, die Tillich, Milbradt und Konsorten verursacht haben. Er ist authentisch; logisch, dass ihm Fehler passieren. Die Beharrlichkeit des Dialogs ist anerkennenswert. Es muss aber sein. Ohne diesen Draht erfahren wir nichts voneinander.

Was mich immer wieder den Kopf schütteln lässt, ist die Tatsache, dass dreißig Jahre für zur Ausbildung eines demokratischen Selbstverständnisses nicht ausreichen. Eine letzte Überlegung dazu: Mit dem Abriss von Kirchen (siehe Paulinum Leipzig; Städtebaupolitik Walther Ulbricht) fielen auch die christlichen Werte. Was den Leuten heilig ist, wissen sie oft selbst nicht. Trotzdem rennen sie den Verkündern solcher Werte nach. Klingt an den Haaren herbeigezogen; sollte aber mitbedacht werden.

Die Würde des Menschen unantastbar. Das schmier‘ ich den Leuten aufs Brot – ob sie es hören wollen oder nicht. Denn ändern lässt sich die Misere nur, wenn wir miteinander und nicht übereinander reden.

Herzlichst!

Beatrix