Tagebuch Mittwoch, 31. Oktober 2018 – Zeichnen

F. kam von einem Kurzurlaub wieder und ich wollte ihm einen kleinen Willkommensgruß in gezeichneter Form auf den Esstisch legen. Bei den ersten Skizzen merkte ich, dass ich quasi alles verlernt hatte, was ich mir in Volkshochschulkursen, im Kunstunterricht und beim Telefondoodeln angeeignet hatte (man telefoniert ja nicht mehr an einem Telefon mit Schnur!). Deswegen googelte ich nach einer Vorlage, die wenigstens in der Form dem Bild entsprach, das ich im Kopf hatte. Das zeichnete ich dann mit Bleistift und viel künstlerischer Freiheit ab, zog die richtigen Linien mit einem schwarzen Stift nach, radierte den Bleistift weg, nachdem ich zehn Minuten lang mein Radiergummi gesucht hatte, und konnte dann zu F. fahren, um die Karte (und Schokolade) abzulegen.

Gearbeitet.

Den Geschirrspüler eingeräumt und mich darüber gefreut, einen Geschirrspüler zu haben. Ãœberhaupt freue ich mich so ziemlich täglich über irgendwas in der Wohnung und denke dauernd, ach, was geht’s mir gold. (Nicht an die Miete denken. Nicht an die Miete denken. Nicht an die Miete denken.)

Weiter Feuchtwangers Exil gelesen, nachdem die FAZ durch war. Dabei kurz die Luft scharf eingezogen, als ich auf einen Satz stieß, der beschreibt, wie ein Nazi-Funktionär den Roman eines vertriebenen Schriftstellers liest, der sich am NS-System abarbeitet: „Eigentlich, dachte er, müßten uns diese emigrierten Schriftsteller dankbar sein, daß wir ihnen so großartige Stoffe liefern.“ (Berlin 2012, S. 89.)

Exil ist bisher das Buch in der Wartesaal-Trilogie, was am allerwenigsten Spaß macht. Aber Feuchtwanger! So toll, diese Sprache!

Eine Spur mehr zu laut wäre noch besser gewesen

Der Film Bohemian Rhapsody (Trailer) kommt in der Kritik nicht besonders gut weg. Dietmar Dath to the rescue!

„Wie lange ist es her, dass so verklemmt wie im aktuellen Gerede über „Bohemian Rhapsody“ an der Inszeniertheit und freimütigen Plattheit eines Films herumgebeckmessert wurde, der nichts weiter zu sein und zu können behauptet als die offiziell abgesegnete Selbstbeweihräucherung samt Erinnerungsarbeit einer Rockgruppe?

Sieht man sich audiovisuelle Original-Dokumentaraufnahmen von Queen an (am besten die allerbeste, aufgenommen in Montreal 1981), erfährt man Mercury als einen, der besser konnte, was er tat, als andere, weil er mehr Spaß dran hatte als alle, und umgekehrt – ein funkensprühender Regelkreis der legitimen Selbstverehrung, der nur von außen zerstört werden konnte (und auch wurde, von einem saudummen Virus). Der Titel seiner edelsten Arie lautet „Somebody to Love“, was bei einem berufsmäßigen Narzissten etwas ganz anderes bedeutet, als wenn die Nummer „Somebody to be Loved by“ hieße: Geliebtwerden oder nicht, das war nie sein Problem, auch wenn er die Stimmen der Sehnsucht, des Defizits, der Verlassenheit ebenso sicher aus sich sprechen lassen konnte wie die der Lust. Der Mann, dessen selbst ausgesuchter Nachname „Quecksilber“ war, konnte jubeln und klagen wie keiner, das teilt der Film treu mit, auch wenn die Gitarrenspuren, die ihn dabei unterstützen, hier und da ein bisschen lauter hätten sein dürfen (wir Altfans sind schwerhörig, erfahrungsdumm und leicht zu beeindrucken, aber nach den ersten Takten von „Keep yourself alive“ hat „Bohemian Rhapsody“ uns in der Tasche). […]

Pathos als Euphorie, Euphorie als Pathos, „Don’t Stop Me Now“ und „Who Wants to Live Forever“ – man könnte eine ganze Pop-Anthropologie aus Queen-Songtiteln bauen, und sie wäre nicht dümmer als irgendwas, was in akademischen Fächern vom Menschen jeden Tag an allen Unis so zusammengeforscht wird. Ein Kritiker der mangelnden Bereitschaft des Feuilletons, sich für Kitsch zu begeistern, meinte neulich, das Schlimme daran sei eine „ elitäre Kunstauffassung“. Darauf kommen nur Leute, die auf Privatschulen waren – Feuilletonismus im schlechten Sinn ist doch gar nicht elitär, Freddie Mercury war viel elitärer (macht nur mal die Augen auf und schaut euch diese Präsentation an, demokratisch geht anders). Das Allerelitärste ist (im Guten wie, manchmal, wie jetzt in Brasilien, im Bösen) sowieso das Allerpopulärste, nämlich die Stimme, die sich an die Masse wendet, indem sie allen Einzelnen darin suggeriert, man unterhalte sich von Meisterschaft zu Empfänglichkeit, von oben nach unten. Autorität muss ein bisschen rätselhaft sein, um zu funktionieren – keine Sau weiß, worum es im Song „Bohemian Rhapsody“ überhaupt geht, was Galileo, Scaramouche und Figaro darin zu suchen haben, aber als der Plattenfirmenidiot sich genau darüber beschwert, reagiert Freddie Mercury, der bis in die Titel letzter Werke („Innuendo“!) wusste, dass das Unverständliche das Allgemeingültige sein kann, mit der berechtigten Arroganz des Götterlieblings.“

PS: Ich mochte den Musikschnitt im Teaser-Trailer sehr.

Ach, hier, komm.