Nachtrag: Tagebuch Freitag, 9. November 2018 – Bruegel, Spitzmaus, Merchandise
Wir logierten in Wien für ein paar Tage im gleichen Hotel wie vor gut zwei Jahren, als die Albertina mich eingeladen hatte. Ich hatte mir gemerkt, dass es recht zentral lag, man zu Fuß zu den wichtigen Museen kommt und dass das Frühstücksbuffett keinen Wunsch offen ließ. Ich hatte allerdings vergessen, wie warm die Bettdecken sind und dass es in einem sehr alten Bauwerk nie Steckdosen am Nachttisch gibt. Da ich Matschbirne aber mein iPhone-Ladedings eh vergessen hatte, brauchten wir nur die eine (!) Steckdose, die am Schreibtisch frei war. Für weitere Stecker wie zum Beispiel fürs Macbook stöpselte ich die Schreibtisch- oder die Stehlampe am anderen Ende des Zimmers aus. F. bestaunte die Deckenhöhe und bedauerte, sein Lasermessgerät nicht mitgebracht zu haben. So mussten wir schätzen und einigten uns auf „auf jeden Fall höher als vier Meter“.
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Im Kunsthistorischen Museum läuft noch bis Januar eine Bruegel-Ausstellung, die anscheinend eine kleine Sensation ist, ich zitiere aus dem Link:
„Because Bruegel was only in his forties at the time of his death, there are only about 40 paintings, 60 drawings, and 80 prints known to be by his hand. His works on panel are the most rare and the most celebrated, so museums lucky enough to own one are loathe to part with them. […]
Believe it or not, this is the first time a museum has managed to organize a monographic exhibition of the Dutch artist—and the show also marks the 450th anniversary of the Old Master’s death! It’s not that no one has tried, either: A half century ago, a planned exhibition marking 400 years since Bruegel’s death was cancelled when the necessary loans could not be secured. […]
Remarkably, the Kunsthistorisches has brought together almost three quarters of the artist’s extant works, with about 90 in total spanning the full length of his career. Some of the pieces on loan for the occasion have never left their home institutions, so it’s easy to understand why no one has been able to pull off a major Bruegel show before.“
Ich hatte beim letzten Besuch die drei Bruegels bestaunt, die an den Wänden hingen, durfte aber am vergangenen Freitag feststellen, dass das KHM noch deutlich mehr als die drei in seinem Besitz hat; der zitierte Artikel nennt zwölf Bilder von Pieter Bruegel dem Älteren, womit das KHM die meisten Ölbilder dieses Malers weltweit besitzt. Vor einem stand ich ewig, nachdem ich ebenso ewig warten musste, bis ich endlich in der ersten Reihe angekommen war. Die Ausstellung hat festgelegte Einlasszeiten, damit es nicht so irre überlaufen ist, aber es ist natürlich trotzdem sehr voll. Und es passiert das, was bei allen Blockbustern passiert: Man steht hinter Leuten, die gleichzeitig dem Audioguide zuhören und versuchen, ein sinnloses Foto vom Bild zu machen. Ich möchte ihnen immer zuraunen, dass die Dinger 400 Jahre alt und damit total gemeinfrei sind und dass man alle Werke per Google vermutlich in deutlich besserer Qualität findet als sie das wackelige Digifoto hergibt, das sie gerade versuchen zu machen. Mein liebster Hasskunde, der sich auch genau vor dem Bild befand, das ich so lange bestaunte, guckte sich das Werk nicht mal an, sondern hörte dem Audioguide zu, während er sich im ganzen Raum umschaute und in der ersten Reihe mit dem Rücken zum Bild stand.
Aber irgendwann war der Typ dann weg und auch der alte Rollstuhlfahrer, der einem einfach über die Füße fuhr, um nach vorne zu kommen, war weitergezogen, und ich stand endlich mittig vor der Kreuztragung Christi (1564), die ich seit Minuten von der rechten Seite aus schräg bewundert hatte. Dort war mir die trauernde Maria als erstes aufgefallen, ich bestaunte die Kleidermassen der Dame im roten Umhang, wunderte mich über den Tierschädel, dachte dann aber, ach, beim Bruegel liegt ja immer viel rum, und guckte dann erst weiter. Als nächstes fiel mir die Windmühle in der Bildmitte auf, die sinnlos auf einer schmalen Felsnadel hockte, und zu der mein Blick immer wieder zurückging, weil es so irrwitzig aussah. Erst dann fiel mir der kreuztragende Christus inmitten einer Menschenmenge auf. Ich hatte den Bildtitel nicht lesen können und kannte das Bild auch nicht, daher wusste ich überhaupt nicht, auf was ich schaue, aber jetzt ahnte ich, worum es ging, nachdem ich zunächst davon ausgegangen war, dass ich eine Szene betrachte, die nach der Kreuzigung stattfand, daher die trauernde Maria. Wie ich nachher aus dem Katalog erfuhr, trauerte die Mutter aber schon während des Kreuzwegs: „[A]ußerbiblische Quellen“ berichten, dass Maria „beim Anblick ihres Sohnens bewusstlos geworden“ sei. (Quelle: Bruegel – Die Hand des Meisters. Kunsthistorisches Museum Wien, Oktober 2018 bis Januar 2019, Brügge 2018, S. 197.)
Ich begann den Rest des Bildes nach Hinweisen abzusuchen: Ah, da rechts sind die aufgerichteten Kreuze, ganz hinten im Bild steht auch noch ein Galgen, und was sind diese Räder auf Stangen? Sind das auch Folterinstrumente? (Natürlich.) Ich verlor mich wie immer bei Bruegel in den vielen Details, der dunstigen Stadt, den Menschen, die Jesus begleiten, verspotten oder ihm helfen, bewunderte die Pflanzen im Vordergrund und die Wolken im Hintergrund und konnte mich überhaupt nicht von diesem Bild trennen. Das KHM instagrammte eine Raumansicht und die vermittelt ganz gut, warum ich mich nicht davon trennen konnte. Das dunkle Raumlicht ließ das Bild geradezu strahlen.
Neben mir war übrigens der einzige Mensch in der ganzen Ausstellung, der genauso still vor dem Bild stand wie ich. Keine Ahnung, ob der Herr vom Fach war oder einfach ein Riesen-Bruegel-Fan, aber er schaute einfach nur, minutenlang, konzentriert, ging vermutlich wie ich das Bild mit den Augen in Abschnitten ab, beugte sich leicht vor, um genauer hinschauen zu können. So ungefähr gucke ich auch, wenn mir ein Bild gefällt bzw. es mich interessiert. Wenn ich auch vermutlich in den nächsten Jahren alles vergessen werde, was ich im Studium gelernt habe – wie man guckt, merke ich mir, denn das mache ich inzwischen automatisch. Das hört sich vielleicht blöd an, aber manchmal ist man ja gerne überfordert, gerade bei so detailreichen Bildern wie die von Bruegel.
Ich freue mich sehr darüber, dass das Wort „Wimmelbild“ Einzug in die kunsthistorische Literatur findet. (Ausstellungsführer Bruegel im @KhmWien) pic.twitter.com/9a1vKQg4Nh
— Anke Gröner (@ankegroener) 9. November 2018
Also fängt man einfach in einer Ecke an zu gucken und beschreibt sich ganz simpel selbst, was man sieht. So wie ich hier eben mit der trauernden Frau in der unteren Ecke angefangen habe. Das weiß ich inzwischen, dass das Maria ist, aber selbst wenn man das nicht weiß, kann man damit weiterstöbern: Warum weint die Frau? Was könnte passiert sein? Sehe ich das irgendwo im Bild? So kann man übrigens auch abstrakte Bilder anschauen: einfach in irgendeiner Ecke anfangen. Linien folgen, Formen oder Farben suchen, was auch immer. Ich brauche immer irgendetwas zum Festhalten; bei gegenständlicher Darstellung sind das gerne Personen, bei abstrakten Bildern ein Detail, von dem ich mich weiter vorwage.
Zurück zum Bruegel. Ich kann euch gar nicht alle Bilder aufzählen, die mich so begeistert haben. Es war großartig, beide Darstellungen des Turmbau zu Babel in einem Raum zu sehen; den Wiener Turm kannte ich ja bereits vom letzten Besuch, den Rotterdamer nur von Bildern. Alleine für den lohnt sich die Ausstellung. Er ist im Original deutlich bedrohlicher und düsterer als in den lustig-bunten Abbildungen. Und wie einem der Katalog verrät und was mir wirklich nicht aufgefallen ist: Er ist komplett von Menschenhand gebaut, während der Wiener Turm aus einem riesigen Felsen herausgeschlagen wird. So oberflächlich kann ich nämlich auch gucken, dass mir ein derartig wichtiges und eigentlich offensichtliches Detail entgeht.
Bei einigen Bildern konnte ich an Dinge anlegen, die ich im Lieblingsmuseum, dem Prado, gelernt hatte. Bei der Anbetung der Könige (1564) entdeckte ich nämlich Kleidungsdetails am schwarzen König, die ich schon bei einer Bosch-Darstellung in Madrid gesehen hatte. Auch bei der Dulle Griet findet man diverse Bosch-Zitate. Die Anbetung der Könige fand ich auch noch aus anderen Gründen spannend: Die Könige sehen alle ziemlich runtergerockt aus anstatt majestätisch, und im Hintergrund stehen nicht die üblichen Bauern oder Hirten, sondern Soldaten mit Lanzen und Hellebarden. Der Katalog fasst das Gefühl gut zusammen, was man vor diesem Bild hat: „In ihrer Gesamtheit verleihen all diese Details dem Werk etwas zutiefst Verstörendes, ein bis dato in der niederländischen Kunst bei der Darstellung der Anbetung der Könige nicht gekanntes Gefühl von Bedrohung.“ (Kat. Ausst. Wien 2018, S. 191.)
Direkt neben dieser Darstellung hing übrigens eine weitere, Die Anbetung der drei Könige im Schnee (1563, nicht 1567, wie die Wikipedia behauptet; das Bild wurde von Bruegel datiert, was aber, laut Katalog, erst vor Kurzem entziffert wurde). Wieder war die Szene nach Flandern verlegt worden, und auch hier musste man die titelgebenden Menschen erstmal suchen. Sie kauern sich links unten an den Bildrand und sind kaum zu sehen durch die dicken Schneeflocken. Der kleine Ausstellungsführer, den ich im obenstehenden Tweet erwähnte, meint, dieses Bild könne eine der ersten Darstellungen von fallendem Schnee gewesen sein.
Etwas ganz Besonderes waren die vier Tafeln zu den Jahreszeiten. Der einzige gesicherte Gemäldezyklus Bruegels entstand 1565 und besteht aus sechs Bildern (darunter Vorfrühling, Frühling, Frühsommer und Hochsommer). Der Frühling ist seit längerer Zeit verschollen und wir wissen nicht, was abgebildet war. Im Katalog lernte ich, dass dieser Zyklus vermutlich mal ein größeres Zimmer geziert hatte – allerdings nur für fünf Jahre, dann wurde er schon wieder auseinandergerissen. Wir sehen diese Bilder zum ersten Mal seit 350 Jahren im Zusammenhang, wie die Website erklärt.
Ein bisschen stinkig bin ich auf die Alte Pinakothek, denn die hat das bekannte Schlaraffenland nicht für die Ausstellung rausgerückt, dabei hätte es so schön in den letzten Saal gepasst, wo auch die Bauernhochzeit hängt. Und: der Bauerntanz, den ich noch nicht kannte und den ich großartig fand. Die Bewegungungen des Paares vorne rechts, das flatternde Kleid der Frau, der Gesichtsausdruck der beiden! Die Kinder vorne links, die trinkenden Menschen. Es sieht auf den ersten Blick – gerade im viel zu dunklen Link – alles sehr grobschlächtig aus, aber wenn man länger hinschaut, fällt einem die schlichte Freude auf, die das Bild trägt. Ich fand es generell spannend, dass Bruegel diesen einfachen Darstellungen ein ordentliches Großformat gönnte; der Bauerntanz ist 114 x 164 cm groß. Dass ein einfaches Volksvergnügen im gleichen Format dargestellt wird wie die Anbetung des Jesuskinds, fand ich bemerkenswert.
An den Grafiken und Stichen bin ich eher vorbeigegangen, ich wollte nur die Gemälde sehen, Druckgrafik ist so gar nicht meins. Ja, ich habe bestimmt was versäumt, aber ich kann eh nie alles gucken, also gucke ich das, was ich wirklich anschauen möchte und nicht das, was ich irgendwie anschauen sollte, weil es halt da ist. Und genau das habe ich dann auch gemacht. Man kommt mit einem sehr satten, zufriedenen Gefühl wieder aus den vielen Räumen – und landet natürlich sofort im Museumsshop, den ich dort noch eilig durchschritt. Unten im regulären Shop war ich länger, ich komme gleich darauf zurück.
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Denn wir hatten ja noch eine Ausstellung vor uns. Die war eher ein Goodie, weil die Eintrittskarte fürs ganze Haus galt und nicht nur für den Blockbuster. Nach Bruegel gingen wir relativ zügig durch den Rest des Museums, das ich ja schon kannte, aber hey, gerade Lorenzo Lotto kann man sich ja immer angucken. Dann schritten wir die breite Prachttreppe hinab zu Spitzmaus Mummy in a Coffin and Other Treasures, eine kleine Ausstellung, die von Wes Anderson und seiner Partnerin, der Autorin und Illustratorin Juman Malouf, kuratiert wurde.
Mir war das Ding von Anfang an egal, weil mir auch die meisten Filme Andersons egal sind – der einzige, den ich durchgehalten habe, war Grand Budapest Hotel. Das Publikum war ein sehr anderes als das bei Bruegel – deutlich jünger, mehr Wollmützen – und ich ahne, dass auch das ein Grund dafür gewesen war, den beiden die Schlüssel für die Depots in die Hände zu drücken. Das macht das Endergebnis aber nicht besser.
Anderson und Malouf haben meiner Meinung nach rein auf Ästhetik hin kuratiert. Sie werfen wild Objekte aus allen Sammlungen des KHM sowie des Naturhistorischen Museum durcheinander und nichts ist beschriftet. Die acht Räume haben meist ein leicht erkennbares Thema (Kinder als Erwachsene; Tierdarstellungen; Menschenfiguren; die Farbe Grün usw.), sind aber in sich eine sinnlose Wunderkammer. Nein, nicht mal das: Die Wunderkammern des Barock – mit einem Bild einer solchen beginnt die Ausstellung – hatten als Ziel einen Erkenntnisgewinn und waren zudem meist thematisch geordnet bzw. beschränkten sich in Bereichen auf Exponate eines Typs; sie warfen nicht wild bildende Kunst, Kunsthandwerk, ausgestopfte Tiere und Kleidungsstücke durcheinander. Genau das machen Anderson und Malouf und verlieren damit jeden Kontext, den die ausgestellten Dinge haben. Die Ausstellung wird dadurch total beliebig und verkommt zur reinen Oberfläche. Das ist alles hübsch, was da rumsteht und das ist auch ebenso hübsch kombiniert und ergibt ein schönes Gesamtbild, aber eben nichts weiter als das. Es kommt keinerlei Spannung auf, es gibt keine Brüche, es macht nichts neugierig. Man läuft mit einem Folder durch die Gegend, auf dem die einzelnen Exponate immerhin namentlich genannt werden (plus Herkunft und Alter), aber nach dreimaligem Nachschauen hatte ich schon keine Lust mehr. Man konnte nirgends weiterdenken, weil alles so hübsch zusammengesetzt wurde und irgendwie fertig aussah. Man konnte sich an nichts reiben, nichts hinterfragen, man stand rum und fand’s niedlich, aber den Effekt kriegt man auch mit einem Teddybär und einem warmen Kakao hin. Die Ausstellung könnt ihr euch meiner Meinung nach getrost schenken.
Die NYT fand’s auch doof, aber im Artikel könnt ihr ein paar Bilder sehen. Und wenn ihr euch bis morgen geduldet, wo (hoffentlich) ein Blogeintrag zu einer anderen Ausstellung kommt, die ebenso wild durcheinanderwürfelt, aber so, dass man was davon hat, werdet ihr Andersons und Maloufs Versuch noch alberner finden.
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Eher unbeeindruckt verließen wir die Ausstellung, die keine war, und gingen zum Museumsshop. Nach längerem Nachdenken wollte ich nämlich doch den Bruegel-Katalog erstehen, den ich oben nicht gekauft hatte. Im Shop stellte ich fest, dass die Merchandise-Menschen wirklich ganze Arbeit geleistet und so ziemlich alles mit Wimmelbildern oder ähnlichem bedruckt oder ausgestattet hatten, was nicht weglaufen konnte. Manchmal war das ziemlich klasse: So gab es Servietten, auf denen der Bildausschnitt aus der Bauernhochzeit abgedruckt war, in dem zwei Männer die vielen Suppenschüsseln tragen. Leider zu klein, sonst hätte ich sie gekauft, einfach weil es so clever war: eine Schneekugel, in der ein Bilddetail aus Jäger im Schnee den Unter- und Hintergrund bildete. Die üblichen Bleistifte, Taschen, Tassen, Kissenhüllen. Und dann etwas, bei dem mir fast ein Entsetzensschrei entfuhr: zwei Bruegel-Bären, die mit Motiven Jäger im Schnee und Kinderspiele bedruckt waren.
Mal abgesehen davon, dass die Bären bescheuert aussehen, weil es scheint, als hätte man einfach eine Farbwalze über sie rollen lassen, ohne darauf zu achten, wo jetzt Farbe oder Motiv landen – der Bär ist der gleiche, den ich als Van-Gogh-Bär im Schlafzimmer sitzen habe! (Hier das zweite Bild von oben.) Mein toller Mandelblütenbär ist nur ein variables Massenprodukt! Waaaahh!
Ich musste mich einen halben Tag lang beruhigen und viel Backhendl essen und Bier trinken, aber jetzt im Nachhinein bedauere ich es, nicht doch einen Bären mitgenommen zu haben. Ich könnte eine Sammlung von Museumsbärchen starten, die mit völlig beliebigen Werken bedruckt sind. Und dann kommt irgendwann ein lustiger Regisseur und stellt sie in neue Zusammenhänge. Okay, vielleicht nicht.
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