Nachtrag: Tagebuch Samstag, 10. November 2018 – Vier Ausstellungen und ein Todesfall (meine Füße)
Im mumok waren wir noch nie, daher suchten wir uns im Vorfeld eine Ausstellung raus, die wir anschauen wollten – und lungerten dann ungefähr fünf Stunden im Haus rum und besahen uns im Endeffekt jedes Stockwerk. So kann’s gehen, wenn Ausstellungen Spaß machen. (Oder man sie einfach recht schnell durchschreitet. Ähem.)
Eigentlich wollten wir zu Doppelleben, begannen aber einfach mal im Untergeschoss bei 55 Dates, denn das klang für mich spannend: „Die Ausstellung präsentiert eine Mischung aus Bekanntem und weniger Bekanntem, zeigt Künstler_innen, die in die Kunstgeschichte eingegangen sind, sowie andere, die es noch zu entdecken gilt. In der unkonventionellen Ausstellungsgestaltung des österreichischen Künstler Hans Schabus ermöglicht 55 Dates Lesarten jenseits konventioneller Erwartungshaltungen an eine lexikalische Überblickssammlung zum 20. und 21. Jahrhundert.“ Oder anders: Das mumok hat einfach mal 55 seiner Werke auf Bauzäune anstatt an edle Stellwände gehängt bzw. mitten in den Raum gestellt und lässt uns als Publikum ohne Absperrseile durchlaufen. Das hätte genauso beliebig werden können wie die olle Spitzmausmumie von Wes Anderson, über die ich gestern nörgelte, war aber stattdessen meiner Meinung nach eine schöne Punktlandung.
An den ersten Werken schlenderte ich noch etwas zweifelnd vorbei: Cosima von Bonins Stofftiere mochte ich zwar gerne, konnte aber nicht so recht etwas mit ihnen anfangen. Die Bilderserie Wiener Spaziergang von Günter Brus kannte ich teilweise schon, aber eigentlich guckte ich gar nicht so richtig hin, sondern im ganzen Raum herum, denn auch das fand ich spannend: Man konnte durch die Gitterwände eben fast die ganze Austellung sehen und schlängelte sich nicht unwissend von Raum zu Raum. Eine große Halle mit einer einzigen festen Stellwand in der Mitte, die von beiden Seiten behängt war, ansonsten nur Gitterzäune und halt viel Kunst. Ich mochte das sehr.
Nach den Stofftieren und den Fotos stand ich vor einem groben Podest aus Holzpaletten und Metall, auf dem vier Skulpturen, unter anderem von Dieter Roth standen. Am Bauzaun nebenan lehnte eine verkohlte Holztür von Beuys, auf der anderen Seite hingen lässig ein paar Warhols. Auf meiner jetzigen Seite hing allerdings eine Fotocollage von jemandem, den ich bisher noch nicht kannte. Bzw. die ich bisher noch nicht kannte, was mir aber auch erst F. in der Wikipedia vorlas. Friedl Dicker-Brandeis‘ Collage So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt von 1933 ruiniert einem ziemlich den Tag, weckt aber auch gut auf. Der Text über der Collage ist auch auf der mumok-Seite (neben weiteren Beschreibungen) lesbar:
„So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt,
Da wirst du hineingeboren,
Da gibt es welche, zum Scheren bestellt
Und welche, die werden geschoren.
So sieht es aus, mein Kind, in der Welt
In unsern und andern Ländern,
Und wenn dir, mein Kind, diese Welt nicht gefällt,
Dann musst du sie eben ändern.“
Das klingt jetzt vielleicht arg zusammenhangslos, obwohl beim Entstehungsdatum 1933 klar ist, worum’s geht, und die Bildbeschriftung auch schlicht erwähnt, dass Dicker-Brandeis 1944 in Auschwitz starb (ich übersetze mal: ermordet wurde), was dann endgültig jede gute Laune vertreibt. Ich erwähne das Werk nur deshalb so explizit, weil es gut in den restlichen Wien-Aufenthalt passte. Am Sonntag hörten F. und ich eine Lesung mit Texten zum Ende des Ersten Weltkriegs und was wir heute noch davon mitnehmen können. Seitdem trage ich den Satz „Hoch die Republik“ mit mir herum, und das mag man total albern finden, aber ich habe mich selten so in meinem bürgerlichen Verfassungspatriotismus bestätigt gefühlt wie in den letzten Tagen (und Monaten), in denen ich geistig ständig in irgendwelchen Nachkriegs- oder NS-Zeiten rumgehangen habe. Sich ab und zu mal zu vergewissern, wie großartig Demokratie und eine Republik sind, tat ganz gut. Ich kartoffeldrucke mir den Satz jetzt auf ein Shirt, ich kriege den echt nicht mehr aus dem Kopf.
(Kleiner Einschub: der New Yorker erklärt unter anderem Herrn Trump den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus.)
Der Bogen zur Kunst zurück: Ich fand es äußerst spannend, diese politische Kunst fast direkt neben Roths Quick-Wurst oder Geschichte zu sehen. Zu sehen, welche Art politische Kunst möglich ist oder möglich sein musste oder irgendwann aus politischen Gründen eben nicht mehr möglich war. Diese wenigen Meter Luftlinie zwischen einem Werk von 1933 und zweien von 1968 haben meinen Kopf schön aufgeschraubt.
Dann schlenderte ich an der mittigen Stellwand entlang, die im Bild 1 zum Ausstellungslink gut zu sehen ist, wobei bei unserem Besuch ein Bild fehlte, wenn ich mich richtig erinnere. Aber auch so: Was für eine Kombi! Ed Paschkes schrille Jeanine (1973) hängt neben Maria Lassnigs introspektivem Pfingstselbstporträt (1969), dann kommt ein Picasso, an dem ich einfach vorbeigegangen bin, kennste einen, kennste alle (ich übertreibe, sorry, Pablo), dann kam der abstrakte Rote Turm von Johannes Itten (1917/18), dazu passte ein futuristischer Balla von 1914, und schließlich hatte mich die Ausstellung total im Sack mit den beiden letzten Werken der Wand: zunächst Kupkas Nocturne (1910/11), das aus blauen Farbflächen besteht – und dann das Bild Tina im Kupkakleid und ich mit Pinsel (2017) von Ashley Hans Scheirl. Das Kupkakleid ist genau das, wonach es sich anhört: ein Kleid, das mit ähnlichen blauen Farbflächen gestaltet ist wie das Bild, das direkt neben diesem Bild hängt. So simpel, so toll.
Einschub: Freut ihr euch eigentlich auch so darüber, dass ihr die ganzen Bilder sehen könnt, weil das mumok sie tollerweise auf seiner Website hat? Ansonsten lege ich euch den kleinen Katalog ans Herz, der kostet nur 15 Euro und wiegt auch nix. Das freut den Touri. Einschub Ende.
Nach der langen Wand schlenderte ich an Konzeptkunst vorbei und freute mich über alles, weil einfach alles Spaß machte. Die Kombinationen ließen jedes Werk für sich leuchten, keins überstrahlte ein anderes, und alle ergänzten sich lustigerweise, auch wenn sie in ihrer Entstehungszeit 50 Jahre auseinanderlagen. Das fiel mir besonders auf der Rückseite der eben angesprochenen Wand auf. Dort hatte ich vorher nicht die ganze Seite überblickt, sondern brav mit dem ersten Bild links angefangen (Bild 3 zeigt die Raumsituation gut). Ich sah also einen Delaunay von 1936, den ich aber in seiner grafischen Schlichtheit im Kopf in die 60er Jahre packte, dann kam Niki de Saint-Phalle von 1961, passte, aber dann ein Bild, das mich an die klassische Moderne erinnerte, und mein Kopf fragte sich, ob da ein Künstler aus den 60ern einen bewussten Rückgriff gemacht hatte, wie lustig, oh, direkt daneben hängt ein Jasper Johns, Ende 60er, wer war denn der schlaue Rückgreifer? War natürlich keiner: Gerstls Porträt der Familie Schönberg ist von 1908, und ich bin fett in die kleine kunsthistorische Falle gelaufen, die ich mir selber aufgestellt hatte.
Das meinte ich gestern beim Meckern über Anderson: Er stellte in seinen großen Setzkästen nirgends solche Fallen auf, er brachte nie zum Stolpern oder Innehalten. Hier war ich dauernd damit beschäftigt, mein eigenes Wissen zu überprüfen oder neu zusammenzusetzen oder einfach beglückt festzustellen, dass man die ganze Kunstgeschichte auch anders präsentieren kann als nach Schulen, Ländern, Stilen oder Zeiten geordnet. Spontan möchte ich jetzt eine Ausstellung haben von Künstlerinnen, die mit F anfangen, denn ich ahne, dass selbst so eine komplett sinnfreie Katalogisierung Überraschungen bereithält bzw. Kunstgeschichte aus einem anderen Blickwinkel zeigt. Wobei die Hängung hier alles andere als sinnlos war. Die Depotsituation nimmt der Kunst nichts von ihrer Aura und sie erzeugt Kontext auf kleinstem Raum – man kapiert kunsthistorische Positionen, ohne durch 70 Ausstellungen rennen zu müssen. Tolles Ding.
Ich erspare euch den weiteren Rundgang, der Blogeintrag wird eh schon wieder zu lang, aber das wäre für meine Wiener Timeline ein dringender Ausstellungstipp. Man kann in einer Stunde durchhuschen, hat viel zu gucken, und das Ganze läuft netterweise noch bis Februar.
PS: Louise Lawler <3
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Ein Stockwerk höher hängt ebenfalls bis Februar die Fotoausstellung Photo/Politics/Austria, deren Plakat uns schon draußen am modernen Gebäude angefixt hatte. Simple Idee: Für jedes Jahr von 1918 bis 2018 ein Foto aus der Nationalbibliothek oder einem der Archive, ein kurzer Text, vielleicht noch ein bisschen Kontext in Form von Plakaten, Büchern oder Zeug dazu, und das war’s. Die Bilder waren thematisch sehr breit gefächert, nicht nur politische Ereignisse, sondern auch kulturelle von Sissi bis Falco waren dabei, es gab Werbung oder Aufregung, und F. und ich mussten einiges aus der österreichischen Geschichte nachgoogeln, denn so bewandert waren wir dann doch nicht, wie wir etwas nölig feststellen. (Ich freute mich, dass ich mir aus Philipp Bloms Buch den Justizpalastbrand von 1927 gemerkt hatte.) Beim Googeln merkten wir immerhin, dass es im mumok WLAN gab, wie es sich gehört und wie sich das deutsche Museen bitte bitte bitte endlich auch einmal anschaffen mögen.
Ich mache diese Ausstellungsbesprechung ganz kurz und gehe nur auf ein Foto ein: Heimkehrer (1947) von Ernst Haas, auf dessen Site gleich das erste Bild der Vienna-Reihe. Wenn man im mumok die Bilderreihe chronologisch abschreitet, geht man logischerweise durch das ganze beknackte Jahrhundert, man gleitet so eklig in die NS-Zeit rein, plötzlich sind da die Hakenkreuze, ich sah einige Bilder, die mich an meine Dissertation erinnern, und dann ist es auf einmal 1947 und aus der großen Politik werden wieder kleine Menschen wie diese Mutter auf dem Bild, die einem vermutlich völlig Fremden das Bild ihres Sohnes (?) vor die Nase hält, ob er ihn vielleicht kennen würde. Ich habe eine leise Ahnung, warum dieses Bild mich komplett geschmissen hat; mir stiegen im Museum ernsthaft die Tränen in die Augen, und auch jetzt beim Bloggen, wofür ich mir das Bild nochmal angeschaut habe, muss ich mal kurz zum Taschentuch greifen. Ich spare mir jetzt jede brave kunsthistorisch sinnvolle Bildbeschreibung. Guckt euch einfach das Bild mit seinen vielen Ebenen an.
(Hoch die Republik.)
Das Bild von 2018 war übrigens ein iPhone, auf dem Instagram zu sehen war, das fand ich einen cleveren Rausschmeißer, so nach dem Motto, jetzt macht ihr doch mal Bilder. Kennengelernt: die Pressofotografin Barbara Pflaum, die quasi die halbe Fotoleiste von den 50ern bis in die 70er bestritt.
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Nach den zwei intensiven Ausstellungen brauchten wir ein bisschen Pause und setzten uns ins winzige Museumscafé, wo ich, wie immer in den Tagen in Wien, Sachertorte aß. Danach versuchte ich ein zweites Mal nach dem Stockwerk mit den Schließfächern, ins Damenklo zu kommen, aber auch auf diesem Stockwerk gab es gerade eine Kabine und die war besetzt. Auf dem Schild am Fahrstuhl hatte ich aber gesehen, dass im Stockwerk bei der Ausstellung von Ute Müller ein Kloschild war, weswegen wir uns dorthin tragen ließen. Im gläsernen Aufzug, bei dem ich mich die ganze Zeit festhielt und mir einen Katalog vor die Augen hielt. Dazu passen auch die Übergänge vom mittig platzierten Fahrstuhl nach rechts und links in die Ausstellungsräume bzw. die Treppenhäuser: ein milchig-halbtransparenter Gitterboden, auf dem ich meine Schritte sehr beschleunigte, um wieder von ihm runterzukommen. Architektur, die Menschen hasst. Jedenfalls die mit wackeligen Füßen oder Höhenangst.
Im Müller-Stockwerk (das zweite von unten) scheint das Hauptklo zu sein (Tipp für alle Touris), da war Platz und Ruhe und ich konnte die Melange loswerden, die ich zur Sachertorte genossen hatte. Und wenn man schon mal da ist, guckt man sich halt auch an, was Frau Müller so gemacht hat. Gefiel mir gut. Ich habe nicht wirklich über ihre raumfüllende Installation nachgedacht, fand sie aber schön. Kopf war noch in der Pause. Sachertorteundmelange-Speicher gingen schon wieder zur Neige.
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In den beiden obersten Stockwerken blieben wir ähnlich kurz, denn in der Ausstellung Klassentreffen standen und hingen diverse Werke aus einer Privatsammlung herum, die uns nicht ganz so begeistern konnten. Ich entdeckte allerdings Silke Otto-Knapp für mich und lachte sehr über das Real Painting (for Aunt Cora), 2013, von John Baldessari und Meg Cranston.
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Und dann kam die Ausstellung, wegen der wir eigentlich hier waren: Doppelleben. Ich zitiere von der Website: „Die Ausstellung Doppelleben rückt bildende Künstler_innen in den Fokus, die Musik geschrieben, produziert oder öffentlich aufgeführt haben beziehungsweise Mitglieder von Künstler_innenbands waren oder sind.“ Das sah dann so aus:
In insgesamt drei großen Räumen auf zwei Stockwerken hingen in verschiedener Höhe Leinwände, auf die Videos projiziert wurden. Vor jedem Video hingen zwei Kopfhörer von der Decke, netterweise mit einem Pfeil auf dem Fußboden, der in die Richtung des jeweiligen Videos zeigte. Das war manchmal wirklich nötig, weil alles kreuz und quer ausgerichtet war, was aber für ein spannendes Raumgefühl sorgte. Es fühlte sich schlicht nicht ganz so kreuzbrav museal an. Ich hätte allerdings gerne ein paar kreuzbrave Bänke oder Sitzgelegenheiten gehabt (die Faltstühle an der Wand entdeckte ich deutlich zu spät). Ich hatte kein Programm oder ein bestimmtes Video, was ich sehen wollte, ich guckte einfach das, was da war. Vielleicht war Laibach nicht unbedingt der beste Einstieg, gerade wenn man an mein Geheule beim Foto denkt, aber nun gut. Laibach halt.
Als ich vor Laibach stand, musste ich immer auf eine Leinwand gucken, die weiter weg war, weil mir die Laibach-Bilder so auf den Zeiger gingen. Deswegen hörte ich danach auch das lustige Lied von Trabant gerne an, dessen Bilder ich durch den ganzen Raum gesehen hatte. Link geht zur Ausstellungswebsite, die auch auf den gefühlt hundertfach ausliegenden iPads voreingestellt war.
Viele längere Videos guckte ich nur in Ausschnitten, klassische Musik, Jazz, Die tödliche Doris, Laurie Anderson, und bei dem 47-minütigen von Alva Noto notierte ich mir beim Zuhören den Künstlernamen und hörte dessen faszinierende, elektronische Musik im Zug auf der Rückfahrt nach München.
Bei den 80 Minuten von Hanne Darboven hätte ich wirklich gerne eine Sitzgelegenheit gehabt, denn das Ding war total hypnotisch. Ich glaube, ich hörte zehn Minuten zu, aber dann musste ich mich dringend bewegen. (File under: warum Stehplätze in der Oper nix für mich sind und wie ich Leute bewundere, die Wagner stehend gucken.) Was ich faszinierend fand: Die Komposition hört sich wirklich an wie das Bildwerk von Darboven. Toll. Und seltsam. Toll seltsam.
Mein persönlicher Rausschmeißer war John Cage, mit dessen Water Walk (1960) das Publikum anscheinend noch nicht so recht etwas anzufangen wusste. Die Quietscheente!
Ich schaffte es so gerade noch ins Hotel zurück, wo ich dringend meine Museumsfüßchen ausruhen musste. Abends rafften wir uns noch zu einem Schnitzel auf (was sonst) und bestaunten dann beim Verdauungsspaziergang die Ankeruhr, von der ich vorher noch nie gehört hatte, nun aber dringend stehenbleiben musste (schon wieder stehen!), um den Figuren beim Weiterrücken zuzugucken.
Die Uhr ist übrigens direkt am Vermählungsbrunnen, den gerade ein interessantes Graffiti ziert.
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