Tagebuch Samstag/Sonntag, 1./2. Dezember 2018 – Licht, Lachenmann, Labernase

Den Samstagvormittag verbrachte ich gemeinsam mit F. auf unseren zwei Leitern (total romantisch), weil der Herr mir angeboten hatte, die noch fehlenden vier Lampen in der neuen Wohnung anzudübeln. Jetzt liegen in einem kleinen Pappkarton vier Glühbirnen mit Fassungen, die wieder an die Decke kommen, falls ich jemals ausziehen sollte. Die Lampen nehme ich dann auf jeden Fall mit, denn die machen wirklich schönes Licht, und ich freue mich darüber seit zwei Tagen sehr.

Und damit ist die Wohnung gut zwei Monate nach dem Umzug fertig. Alles steht da, wo es hin soll, alle Gardinen und Lampen hängen, alles ist eingeräumt. Irgendwann hole ich noch ein paar Kisten von meinen Eltern, für deren Inhalt ich vermutlich wieder etwas umschichten muss, aber: Erstmal habe ich hier nichts mehr zu tun außer zu wohnen und mich weiter wohlzufühlen. Das war und ist ein sehr schönes Gefühl.

Während F. nach getaner Arbeit Freizeitprogramm hatte, putzte ich die fertige Wohnung einmal durch, denn trotz an die Decke gehaltenem Staubsauger, während F. Löcher produzierte, lag natürlich viel Staub und Dreck rum. Und wenn ich schon mal dabei war rumzusaugen, wischte ich auch gleich Staub, putzte Bad und Küche, bezog die Betten neu und konnte mich gerade noch selbst davon abhalten, bei fünf Grad Außentemperatur die Fenster zu putzen. Stattdessen lungerte ich auf dem Sofa rum und ärgerte mich über die erste Halbzeit Stuttgart-Augsburg. Die zweite verschlief ich größtenteils, was auch besser so war. (0:1.)

Abends sahen F. und ich uns dann wieder. Spätabends, sollte ich hinzufügen, denn in der Pinakothek der Moderne fand die erste Ausgabe der neuen Saison „Nachtmusik der Moderne“ statt. Das Münchner Kammerorchester lädt sich eine*n zeitgenössische*n Komponist*in ein, die Pinakothek baut beeindruckend viele Stühle und eine Bühne in die Rotunde, und man lauscht ab 22 Uhr anderthalb Stunden sehr modernen Klängen. Um 21 Uhr findet stets ein Einführungsgespräch statt, und da wir beide Helmut Lachenmann schon mal haben reden hören, wollten wir das noch einmal tun. Das lohnte sich wieder sehr, obwohl der Mann vermutlich alle Fragen zu seiner Musik schon tausendmal beantwortet hatte. Einen Satz habe ich mir gemerkt, denn der schien mir passend auf alles Neue zu sein, was uns in Bild oder Ton über den Weg läuft: Man sollte „das Unvertraute zulassen“. F. hatte das Glück, seine Musik bereits schon einmal live gehört zu haben, ich verfolgte die Veranstaltung damals per Livestream, was auch toll war. Schon im Juni sagte ich mir, so etwas noch nie gehört zu haben, aber gestern war es wieder neu, auch wenn ich ahnte, was auf mich zukam.

Das erste Stück, Mouvement (– vor der Erstarrung, 1983/84) ließ mich des Öfteren mit offenem Mund dem kleinen Orchester zuschauen, weil ich es so faszinierend fand, welchen Klang man aus klassischen Instrumenten holen kann, der rein gar nichts mit den Tönen zu tun hat, die ich sonst von Geigen oder Querflöten kenne. Ich verstand zum ersten Mal den Begriff „Klangkörper“ für ein Orchester, denn genauso hörte es sich an: wie der Körper eines schweren Menschen oder sogar einer Gesteinsformation, eines Biotops, eines riesigen Tieres, der oder die sich dahinschleppt, sich ein letztes Mal aufbäumt und dann verendet. Pression (1969) war dann noch spannender: Wir schauten 9 Minuten dem Cellisten Lucas Fels dabei zu, wie er sein Cello bearbeitete, und ich war sehr dankbar dafür, ihn im Einführungsgespräch hatte sagen hören, dass das Instrument bei der Behandlung keinen Schaden nimmt. Bei Mouvement war ich zwischenzeitig schon arg zusammengezuckt, als die Bratschen ihre Instrumente mit dem metallenen Ende des Bogens beklopften. Pression war auch deshalb spannend, weil Fels gesagt hatte, dass diese Art Musik keinerlei Spielraum für den oder die Künstler*in bietet. Sie ist so präzise formuliert und notiert, dass man quasi nur ausführt, aber nicht interpretiert. (Hier sprechen Lachenmann und Fels miteinander, ich habe mir das selbst noch nicht komplett angehört; hiermit vorgemerkt.)

Für Ein Kinderspiel – Sieben kleine Stücke (1980) setzte sich Lachenmann dann selbst an den Flügel, und ich war erneut begeistert – davon, wieviel man mit wenigen Tasten auslösen kann. Das Schlussstück Notturno – Musik für Julia (1966) klang dann fast konventionell – es war eben das älteste Stück –, aber ich bin doch dankbar dafür, dass das der Rausschmeißer war. Die Kracher kamen netterweise am Anfang, als alle noch halbwegs zuhören konnten. Aber ich habe bei diesem Stück gelernt, dass man beim Cello auch durchaus den Stachel mit dem Bogen bespielen kann, wenn der Komponist das so will.

Was ich von diesem Konzert mitnahm: wieder mal die Bereitschaft, sich auf Dinge einzulassen, Dinge zuzulassen, Dinge etwas mit mir machen zu lassen. Ich verstehe diese Musik nicht, ich weiß auch nicht, ob man sie verstehen muss, Kunst muss man ja auch nicht verstehen. Die vorgestern gehörten Klänge erweiterten schlicht meinen Horizont, mein Spektrum von Musik, die ich bisher gehört hatte. Sie machte mich aufmerksam, und ich fand erneut einen Weg zur zeitgenössischen oder abstrakten Kunst. Es ist Blödsinn, darüber nachzudenken, was einem der Künstler oder die Künstlerin mit den Werken vielleicht sagen will (außer sie wollen mir echt total offensichtlich was sagen). Viel spannender ist es doch, sich den Prozess des Schaffens zu vergegenwärtigen. Klar kann man immer weiter nach einer netten Melodie oder einem schönen Bildmotiv suchen, aber man kann sich auch fragen: Was kann ich mit diesem Kontrabass denn noch machen? Was mit dieser Farbe? Was mit diesem Material? Also: die Mittel zum Zweck eben nicht nur als Mittel sehen, sondern als Zweck selbst.

Was ich von diesem Konzert auch noch mitnahm: dass ich danach auf dem Klo saß und beim Papierabrollen dachte, oh, das klingt spannend.

Gemeinsam eingeschlafen, gemeinsam aufgewacht, zwei mögliche Reservierungszeitpunkte im Café Puck versäumt, weil wir so lange im Bett rumlungerten. Danach spontan den Beschluss gefasst, uns den ollen Meese in der Pinakothek der Moderne anzugucken. Ich fuhr für ein Stündchen nach Hause, duschen, Kaffee trinken, Adventskranz instagrammen, dann fuhr ich wieder zu F. und wir schlenderten durch den Nieselregen zur Pinakothek, wo auch mein Dissertationsobjekt in einem Saal hängt. F. so: „Erst mal zur NS-Kunst, nach Meese haben wir garantiert schlechte Laune.“ Ich fand das sehr bezeichnend, dass einem Nazikram weniger schlechte Laune macht als Meese. (Original und Wannabe, wie ich gestern twitterte.) Der Gedanke stimmte aber, denn neben der „Donaubrücke bei Leipheim“, einem Bild, das den Bau der Reichsautobahn zeigt, hängt neuerdings im Saal 13 Protzens „Einsame Straße“ von 1932, die ich natürlich als Schwarzweißfoto aus dem Nachlass kannte. Das sah ich gestern zum ersten Mal im Original und blieb recht lange davor stehen. Danach war ich wieder sehr motiviert, mich an dem Mann abzuarbeiten, was ich in den letzten Monaten nicht mehr so recht war; die Absage der Grossberg-Erben hallte doch länger nach als gedacht.

Der Saal 13 ist noch inkonsequenter geworden als er es eh schon war, und so langsam verliere ich die Geduld mit dem Kuratieren von NS-systemkonformer Kunst. Die Moritzburg in Halle hat das hingekriegt, wieso München nicht? Vermutlich wissen alle anderen Museen in Deutschland, warum sie schön die Finger davon lassen: weil’s halt Arbeit macht, sich mit dem Kram auseinanderzusetzen und man sich fragen lassen muss, warum man diese Bilder überhaupt aufhängt. Weil es zur Kunstgeschichte in Deutschland gehört, wäre schon mal eine erste Antwort. Aber noch mag die anscheinend keiner geben. Oder nur arg wachsweich und halbherzig wie jetzt in der Pinakothek.

Ich besuchte meine Lieblinge der Neuen Sachlichkeit, schlenderte an ein paar Schwarzweißfotografien vorbei, guckte zu Anselm Kiefer rein, lief wie immer über Carl Andre, nickte kurz Herrn Lehmbruck zu und dann mussten wir zu Meese.

Ich finde Meese doof. Ich habe ihn aber noch nie im Original gesehen, nur in Katalogen. Eben weil ich ihn so doof finde, hatte ich im Zentralinstitut für Kunstgeschichte vor einiger Zeit mal alle Kataloge an den Platz geschleppt, die wir über ihn haben, um vielleicht doch zu ergründen, warum einige Kurator*innen meinen, das wäre alles toll, während ich glaube, dass das alles Blödsinn ist. Hat nicht geholfen. Daher war die derzeitige Ausstellung eine weitere Hoffnung: Vielleicht muss man ihn im Original sehen, um zu wissen, was an seiner Kunst dran ist. Ich kann jetzt für mich persönlich feststellen: nö. Ist immer noch Blödsinn.

Ich erkenne bei Meese durchaus Themen und Symbole, das ist auch nicht schwer, das Eiserne Kreuz und die pseudo-verschämt übermalten Hakenkreuze sind relativ einfach wiederzuerkennen. Auch sein ganzes Namedropping schafft einen gewissen heldisch-mythischen Kosmos. Das macht Anselm Kiefer auch, aber bei ihm behaupte ich, eine Auseinandersetzung mit den Themen zu sehen. Meese als braves Mittelstands-Friedenskind kann sich an diesen Themen überhaupt nicht abarbeiten, weil er nie ernsthaft mit ihnen konfrontiert war. Okay, jetzt wo die AfD da ist, könnte er sich mal deutlicher positionieren anstatt weiterhin sinnlos-provokant den Hitlergruß zu zeigen. Ich erkenne bei ihm keine Tiefe, kein Weiterdenken, sondern nur plakative Wortwüsten. Die Idee einer Diktatur der Kunst ist ja eine clevere, aber das war’s dann auch, er benennt sie – und lässt sie dann wieder versanden. Ich ahne seit gestern, dass in dem ganzen Wortgeklingel und Bastelstundenfirlefanz in den Vitrinen durchaus was drin sein könnte, wenn er es mal konsequent ausformulieren würde, aber genau das macht er halt nicht. Er bleibt bewusst vage – und damit total banal und langweilig.

Ich musste an den Satz von Lachenmann denken, sich mit dem Unvertrauten zu konfrontieren und auch an meine Schlussfolgerung, mal Dinge etwas mit mir machen zu lassen. Ich versuchte das bei Meese wirklich, fand das Design des Bodens gut, der die Werke zusammenhält, und generell die Idee, ihn einen Raum komplett gestalten zu lassen anstatt seine Werke auf mehrere zu verteilen. Andererseits machte das auch sehr einfach klar, dass er halt nicht mehr als einen Raum zu bieten hat, und der war ziemlich voll mit Quatsch. Aber das versuchte ich alles in den Hinterkopf zu schieben und unvoreingenommen auf seine Materialien zu gucken, ich versuchte, seine Sätze erneut zu lesen, als ob ich sie noch nie gelesen hätte, aber es brachte alles nichts. Es blieb alles an der Oberfläche, und ich kam mir völlig verarscht vor bei dem Vorhaben, da eine tiefere Schicht sehen zu wollen. Meeses Zeug ist für mich das HURZ! der bildenden Kunst, und ich kann seine Kunst einfach nicht ernstnehmen. Vielleicht weil es eben genau nicht unvertraut ist: Er schafft nichts Neues mit seinen Collagen, er findet keine neuen Bildformate oder Ausdrucksmöglichkeiten.

Wir blieben keine 20 Minuten. Ich blätterte danach im Museumsshop noch ein bisschen in seinen Schriften, kam aber keine zehn Zeilen über Wagner weit, weil ich wegen heftigen Augenrollens nicht lesen konnte.

French Toast im Café Puck, dann doch noch. Der dauerte länger als geplant, denn die Servicekraft konnte ihre eigene Schrift nicht mehr lesen und orderte „Frühstück“ statt „French Toast“, weil FR anscheinend beides bedeuten konnte. So war mein Milchkaffee leer, bevor mein Essen kam, aber dafür war ich in netter Gesellschaft und wir konnten uns beide schön über Meese aufregen. Immerhin das kann er: Man muss sich mit ihm beschäftigen. Das war auch unsere große Erkenntnis: Der Mann ist Zentrum seiner Schöpfung, er ist das Gesamtkunstwerk, das er an Wagner so bewundert. Nur doof, dass diese Schöpfung nur für ihn wichtig ist. Okay, und für ein paar Kurator*innen und Sammler*innen. Ich lasse sie weiter in ihrem Fanclub spielen und werde Meese ab jetzt für mich abhaken können. Puh.

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