Tagebuch Donnerstag, 3. Januar 2019 – Verdammte Newsletter

Ich erwähnte es bereits: Mein FAZ-Abo ist seit dem 31. Dezember Geschichte, weil ich fast den kompletten Dezember ungelesen ins Altpapier geworfen habe. Vielleicht war das aber nur eine Pause, die mal sein musste, und kein Dauerzustand, denn vorgestern kaufte ich die Süddeutsche und gestern, war ja klar, die FAZ. Und verdammt nochmal, die Zeit auch noch.

Das lag mal wieder am ollen Perlentaucher, dessen Newsletter mich jeden Morgen daran erinnert, was alles so Spannendes geschrieben wird. Ich lese immer zuerst die Kulturrundschau Efeu und wenn ich dann nicht schon genug Links abklappern (oder Zeitungen kaufen) muss, auch noch die Debattenrundschau 9punkt. Dieses Mal waren beide Unterseiten schuld am Gang zum Kiosk, denn in der FAZ stand ein Streitgespräch über die Rückgabe von Raubkunst aus den ehemaligen Kolonialgebieten, das online nur hinter einer Paywall zu lesen ist und worauf mich 9punkt hinwies. Efeu erwähnte hingegen, dass die Zeit ihr gesamtes Feuilleton für Leonardo da Vinci freigeräumt hätte, der vor 500 Jahren im Mai 1519 gestorben ist. Ich habe zwar in der Florenz-Ausstellung in der Alten Pinakothek gemerkt, dass mir die italienische Renaissance immer egaler wird, aber das wollte ich dann doch lesen. Auch weil mich der Newsletter (VERDAMMTE NEWSLETTER) des Zentralinstituts für Kunstgeschichte auf mehrere Vorträge zu diesem Thema aufmerksam machte.

Nebenbei ist die Ausstellung in der Pinakothek natürlich trotzdem toll. Vielleicht hatte ich Pech, weil so viele Führungen unterwegs waren, ich war bereits Ende November drin und musste mich durch viel zu viele Leute kämpfen. Ich habe trotzdem das gesehen, was ich sehen wollte: die Leihgabe aus den Uffizien, die Anbetung der Heiligen drei Könige von Botticelli. Davor blieb ich ewig stehen und kehrte auch öfter zum Bild zurück, aber ein anderes Werk konnte mich noch mehr faszinieren, das ebenfalls sonst in den Uffizien hängt: das Bildnis einer Frau im Profil (ca. 1475/80) von Piero (del?) Pollaiuolo. Das musste ich sogar fotografieren, was ich in Ausstellungen so gut wie nie tue, weil ich alle Leute doof finde, die auf ihr Handydisplay schauen anstatt auf das Bild direkt vor ihrer Nase, ich alter Snob.

Das Foto kann nicht annähernd wiedergeben, wie wunderschön das Bild ist. Ich starrte ewig auf den fein gestickten Ärmel der Dame und ihren üppigen Schmuck, die Kette, die Steine, mit denen ihr Gewand verziert ist, und ihren Haarschmuck. Auch an den fast einzeln zu erkennenden Haarsträhnen konnte ich mich nicht sattsehen. Ich mochte den Schatten an ihrem Nasenflügel, die zarte Rötung ihres Gesichts, die über den üblichen kleinen Rougeklecks hinausgeht, und auch, dass sie nicht so puppig-perfekt aussieht wie andere Frauenbilder aus der Zeit. Ihr leicht vorspringendes Kinn neigt ein winziges bisschen zum Doppelkinn, und die Nase ist auch etwas dramatischer als ein damenhaftes Stupsnäschen. Ein Detail fand ich besonders schön: Der Rahmen schließt nicht direkt an die Leinwand an, man kann die untere Kante des Bildes sehen, was alles noch erdiger, wirklicher scheinen lässt als die sonstigen überirdischen Werke, mit denen die Ausstellung vollhängt.

Die Musik zum Tag aus Year of Wonder kommt von Hildegard von Bingen, was mich sehr gefreut hat – nach zwei Kerlen schon eine Frau, das ist ja in der Klassik nicht ganz so üblich. Außerdem habe ich mich über die Integration von einer eben nicht-klassischen Komponistin gefreut. Ich lauschte den viel zu kurzen zwei Minuten ihres O virtus sapientiae und erinnerte mich an eine Vorlesung in Musikwissenschaft, wo ich bei einer ähnlichen Aufnahme mein Handy mitlaufen ließ, weil ich solche Musik noch nie gehört hatte. Das Stück ist im Dunklen noch toller, wenn nichts ablenkt. Oder vermutlich in einer Kirche, aber da lenken mich gerne die unbequemen Bänke ab.

Ich habe hier bewusst kein YouTube-Video verlinkt, die ich grundsätzlich für niedrigschwelliger als Spotify halte, aber ich habe keins gefunden, das der Version auf Spotify auch nur nahe kommt. Dafür ist hier eins mit dem gleichen Ensemble, VocaMe, mit O tu illustrata, auch von von Bingen.

Autorin Clemency Burton-Hill schreibt, vielleicht etwas zu verallgemeinernd, über von Bingen und ihre Musik (S. 13):

„Writing in a ‚monophonic‘ style – we’ll come to ‚polyphony‘ soon – she creates these soaring melodies for her nuns to sing that rise heavenward out of a spare, single line. Her music must have been particularly consoling to sing given the violence and uncertainty of the medieval era.

Perhaps that’s why it still feels so resonant. This would be vibrant and unusual music if it were written in any era; that is was written almost a thousand years ago, and by a very busy nun, only heightens the wonder.“

Hier ein bisschen zur „spare, single line“ der Musiknotation.

Ansonsten: Leergut weggebracht, nicht spazierengegangen, gearbeitet, Diss links liegengelassen, keine Lust zum Kochen gehabt und mal einen Entschlackungstag von diesem ewigen Gemüse eingelegt: mit Erdnussflips und Keksen und den üblichen zwei Litern Bünting-Grüntee OMG SO GUT! Ich freue mich abends beim Teekannenabwaschen immer schon darauf, diesen Tee zwölf Stunden später wieder aufbrühen zu können.