Tagebuch Montag, 25. Februar 2019 – Eine Ausstellung, zwei(hundert) Meinungen
Einem Kunden einen Job um kurz nach 9 in die Mailbox geschoben und mich dann in die Bibliothek abgemeldet. Bis nachmittags saß ich glücklich im ZI. Also glücklich, weil ZI, aber gleichzeitig stirnrunzelnd, weil herausfordernde Literatur.
Abends noch gearbeitet, die sonntägliche Folge Kitchen Impossible im Schnelldurchlauf geguckt und dementsprechend sofort Kartoffelpüree zubereitet. Allerdings nur einmal durchs Sieb gestrichen und mit weitaus weniger Butter. Aber die Maßeinheit „anderthalb Kilo Butter auf zwei Kilo Kartoffeln“ werde ich irgendwann mal nachbasteln. Das muss so großartig sein.
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Aber zurück ins ZI, wo ich erstmal total mitleidig war, wie immer, wenn ich an diesem Schild vorbeigehe, das unten im Keller des ehemaligen NS-Baus hängt, wo jetzt alle Kunstzeitschriften dieser Welt stehen:
Dieses Schild sagt mir, dass Bücher ganz schlimm leiden, sie sind so belastet, dass ihnen sogar die Regale etwas abnehmen müssen. Noch ein Grund mehr, sie immer zu umarmen, wenn man sie durch die Gegend schleppt.
Ich beschäftige mich gerade mit der ersten bundesweiten Ausstellung von systemkonformer NS-Kunst in der Bundesrepublik, die 1974 im Kunstverein Frankfurt stattfand (und die keinen Wikipedia-Eintrag hat!). Den Katalog kann ich quasi auswendig, aber jetzt wollte ich mich ein bisschen mit der Rezeption der Schau befassen. Ich fand erstmal zwei Rezensionen in Kunstfachzeitschriften (nicht Tageszeitungen oder Magazinen), die unterschiedlicher nicht sein konnten und stöberte dann in einem Band, der von den Ausstellungsmachern selbst herausgegeben wurde: Reaktionen. Darin ein irrwitzig dicker Pressespiegel aus eben Tageszeitungen und Magazinen sowie die Auswertung von Fragebögen, die die Besucher*innen ausfüllen konnten, mit Fragen wie „Was soll diese Austellung? Wie fanden Sie das alles? Möchten Sie uns noch was sagen?“ Auch einige Seiten der Wandzeitung (aka des Gästebuchs) waren abgedruckt, und die waren wie alle Seiten von allen Gästebüchern: wie Internetkommentare, nur noch schlechter lesbar, weil handschriftlich.
Ich fand es spannend, wie oft auf dem Thema „ABER WAS IST MIT DER GANZEN LINKEN KUNST?“ rumgeritten wurde. Ich bin mir nicht sicher, wie groß das Wissen des durchschnittlichen Bundesdeutschen 1974 in Bezug auf DDR-Kunst war, aber anscheinend waren sehr viele Menschen der Meinung, der sozialistische Realismus wäre genauso schlimm wie der Nazikram, wenn nicht noch schlimmer. Sinngemäßes Zitat: „Rechts- und Linksfaschismus unterscheiden sich nicht.“ Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll, den Satz politisch und kunsthistorisch aufzudröseln.
Vieles las sich wie jede Twitterdiskussion, wenn irgendjemand etwas Sexistisches anprangerte: ABER WAS IST MIT FRAUEN, DIE MÄNNER SCHLAGEN? VÄTER HABEN KEINE RECHTE! KÜMMERT EUCH LIEBER MAL UM WITWENVERBRENNUNG IN INDIEN! Ernsthaft. Ich dachte, Whataboutism wäre eine Erfindung von Social Media, aber nein, den gab es schon in Wandzeitungen der 1970er Jahre.
Mich überraschte auch die Vehemenz dieses Urteils. Wir hatten gerade eine sozialliberale Koalition, einen sozialdemokratischen Bundeskanzler, die Ostverträge. Dass der Feind immer noch eher rot als braun war, verwunderte mich doch etwas. Ich ahne langsam, warum die zahlenmäßig recht kleine RAF gefühlt weitaus stärker bekämpft wurde als die ganzen rechten Netzwerke, die sich nach 1945 wieder oder neu etablierten – und deren Bodensatz wir bei diversen Landtagswahlen seit den 1950er Jahren und jetzt sogar bundesweit parlamentarisch spüren.
Foto aus dem Handgelenk für F., um ihn zu informieren, was ich gerade mache.
(Ziegler, Saliger)
Die beiden oben angesprochenen fachlichen Rezensionen lasen sich etwas gefasster, aber auch da knurrte ich ab und zu. Manfred Schlösser fand in das kunstwerk 1 (1975) die Ausstellung problematisch und fragte sich: Wenn sie doch nicht begeistern, sondern informieren und aufklären wollte, hätten dann nicht auch Fotos der Werke gereicht? Mussten da echt die Originale hängen? Und ich so: Manfred, Hase: Reicht dir ein Foto der Mona Lisa nicht auch? Musst du dafür extra nach Paris fahren? Ne Postkartenabbildung ist doch genauso informativ. Womit ich jetzt auf keinen Fall irgendwen in der Ausstellung mit Leonardo gleichsetzen will, aber bei dem Argument wollte ich den Mann gut 40 Jahre zu spät noch liebevoll schütteln.
Dann meinte er noch, der Katalog und die Wandtexte seien so gut, das könne man jetzt so lassen, es „besteht schon fast kein Anlaß mehr, nazistische Kunstübungen eines Tages ernsthaft in kunsthistorischen Seminaren behandeln zu lassen.“ Klingt sinnvoll, wir überspringen einfach zwölf Jahre, da war ja nix. Machen wir in Geschichte ab sofort auch so.
Der Abschluss war dann die oben schon angesprochene Gleichsetzung von systemkonformer NS-Kunst mit dem sozialistischen Realismus und ich regte mich wieder sinnlos auf: „Mit der Weihe der Wissenschaft einerseits und fanatischem Beifall der Vertreter einer andern [sic!] staatlich verordneten Kunstübung ließe sich im Zeichen eines erstarkenden Neorealismus durchaus auch eine Einkehr dieser wie sozialistischer Scheußlichkeiten in Museen denken, die ihre einzige Aufgabe in der Dokumentation verschiedener Zeitläufte sehen.“ Dokumentation, genau. Weil die NS-Künstler mit ihren Bauernbildern ja Berlin 1941 abgebildet haben. Und die DDR-Maler*innen die Bückwarenschlangen. Hast du dir die Bilder eigentlich angeguckt, die da hingen? Oder irgendeine Ausstellung in Leipzig oder Dresden? Und was ist überhaupt gegen Neorealismus einzuwenden?
*schnauf*
Auf Kritik gegenüber realistischen Abbildungen war ich schon in Bezug auf Kiefer und Lüpertz gestoßen – das war durchaus ein großes Thema in der Kunst, gerade weil die letzte realistische Darstellungsweise vor der Bundesrepublik eben der NS-Staat war. Danach wurde brav abstrakt gemalt, um bloß keine ästhetische Nähe aufkommen zu lassen. Die DDR-Kunstgeschichte hat sich das etwas einfacher gemacht und behauptet, der sozialistische Realismus mit seinen Arbeiterdarstellungen wäre was ganz anderes, wir sind ja die antifaschistischen Guten und deswegen kann das keine Propaganda sein. (Sehr überspitzt formuliert.)
Ich will jetzt weder das NS-Regime noch die DDR-Diktatur schönreden und auch nicht die Tatsache, dass Kunst in beiden Systemen eine politische Funktion hatte, aber können wir bitte mal auf dem Teppich bleiben? Das tat netterweise die andere Rezension von Werner Jehle in den schweizerischen Kunstnachrichten 3 (1975). Er erwähnte dankenswerterweise die Filme, die zur Zeit des „Dritten Reichs“ gedreht wurden und mit denen man sich bereits in den 1960er Jahren wissenschaftlich auseinandergesetzt hatte – ohne große Diskussion in den Medien. Aber Bilder und Plastiken waren anscheinend ein anderer Schnack. Über weitere Kunstgattungen neben meinen hatte ich noch gar nicht intensiv nachgedacht, aber seit gestern frage ich mich schon, wieso man den Bauern- und Blumenbildern aus dem Haus der Deutschen Kunst ein so gefährliches Potenzial nachsagte, den ganzen Rühmannfilmen und Leanderschlagern aber nicht, obwohl die genau wie die idealisierten Abbildungen und Plastiken vom Weltkriegsgeschehen ablenken sollten.
Jehle wies auch auf die untragbare Gleichsetzung von Systemkunst und sozialistischem Realismus hin, nutzte aber ein Argument, bei dem ich mir nicht so sicher bin: Er meinte, der Sozialismus hätte schließlich unter dem Faschismus am meisten zu leiden gehabt, und dazu würde ich jetzt gerne mal eine jüdische Stimme hören. Er wunderte sich dann über die Demonstrationen und Proteste im Vorfeld der Ausstellung (darüber ist auch in Reaktionen einiges zu lesen) und zitierte Mit-Kurator Berthold Hinz, den Autor eines Standardwerks über das NS-Kunstsystem (mit dem ich manchmal hadere): „[Hinz] wunderte sich, dass man […] hingegen nichts unternommen hätte gegen die pseudo-kritischen Produkte des Gruner-und-Jahr-Verlags, die das Dritte Reich auf Illustrierten-Niveau abhandelten, und die Hitlerbiographie von Fest, die den Faschismus einem einzelnen überantwortete.“
Und Jehle hat ein schönes Argument zu Ausstellung und wissenschaftlicher Beschäftigung mit dieser Kunst: „Die ästhetischen Produkte der NS-Zeit bewusst ausklammern aus der Historie kann einer nur, wenn er die Verbrechen der NS-Zeit als einmaligen Betriebsunfall der Geschichte betrachtet und nicht als Folge einer auf ganz spezifischen ökonomischen und weltanschaulichen Voraussetzungen beruhenden Politik.“