Tagebuch Dienstag, 26. März 2019 – Zehn Seiten
Noch ein Schreibtischtag für die Diss. Wenn gerade kein Kunde was von mir will, nutze ich die Zeit natürlich gerne dafür, konzentriert etwas für die schnafte Wissenschaft wegzuarbeiten.
Bei meinen letzten beiden Besuchen im Kunstarchiv in Nürnberg habe ich vom Nachlass soviel wie möglich fotografiert. Irgendwann konnte ich nichts mehr sehen und verhungerte, deswegen habe ich nicht jeden Zettel und jedes Foto abgelichtet, aber für einen guten Überblick reichen die gefühlt 1000 Fotos auf meinem Rechner. Inzwischen kenne ich sowohl Biografie als auch Werk als auch künstlerisches Umfeld von Protzen besser, und deswegen klickte ich mich gestern einfach mal durch ein paar Ordner, in denen zum Beispiel abfotografierte Zeitungsausschnitte lagen, in denen Protzen und/oder seine Frau erwähnt werden, ich schaute mir noch einmal sein grafisches Werk an, und den ganzen Nachmittag brachte ich damit zu, den Spruchkammerbogen auszuwerten, der netterweise auch im Nachlass lag und nicht in einem Archiv in München. Also den Fragebogen, den die Alliierten nach 1945 verteilten und die jeder ausfüllen musste, wonach eine Spruchkammer darüber entschied, ob man Mitläufer, glühender Nazi oder genau das Gegenteil gewesen war. Ich gehe nicht ins Detail, aber die Selbstauskünfte von Protzen konnte ich – mit Vorbehalt – in meinem biografischen Kapitel anlegen, ich konnte Briefe an ihn und von ihm zitieren und damit einen Kontext schaffen, ich konnte Auskünfte aus dem Bundesarchiv damit verknüpfen und und und. Also genau das, was ich so gerne mache, wenn ich mich mit einer Person beschäftige: Puzzlestücke zusammenfügen, um ein besseres, runderes Bild zu bekommen. Falls das überhaupt noch möglich ist. Aber bei Leo von Welden fand ich genau diesen Kontext wichtig, um eine Aussage darüber treffen zu können, ob er die eindeutig ideologischen Bilder auf der Großen Deutschen Kunstausstellung nun aus Überzeugung gemalt hatte oder schlicht, weil er glaubte, dafür mehr Geld zu bekommen als für eine Landschaft.
So tippte ich stundenlang vor mich hin, klickte, blätterte, suchte im Internet, in Archivsuchmasken oder Bibliotheken, aß zwischendurch ein bisschen Brot mit Lemon Curd und abends Pasta mit Salsiccia (denn: Wenn irgendwo Salsiccia rumliegt, muss ich Salsiccia kaufen) und merkte gar nicht, wie die Zeit vergangen war. Und vor allem: wieviel ich in lausigen zwei Tagen zusammengeschrieben hatte. Nur durch die dicke Stoffsammlung, die ich seit über einem Jahr befülle und die mir bis vor wenigen Wochen nicht ausreichend vorkam.
Das schrieb ich sinngemäß an F.: „Ist ein seltsames Arbeiten. Ich schreib auf, was ich an Material da habe und merke dauernd, wieviel das eigentlich schon ist. Zehn Seiten in zwei Tagen, nur vom Schreibtisch aus.“
F. so: „I am Jack’s complete lack of surprise.“
Und im Nachsatz: „This is why you talk to your Betreuer ab und zu, because he knows this kind of Zeug.“
Genau. Vati knows best. Der wusste, dass ich locker mit dem Schreiben anfangen konnte bevor ich es wusste. Endlich mit Profis arbeiten!
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Mein Lieblingszeitungsausschnitt war dieses launige Zitat vom September 1949. 49! Wir erinnern uns: Das ist ungefähr der Zeitpunkt, an dem die Debatte begann, dass es jetzt auch mal gut sein müsse mit diesem Nazikram.
„Das Haus der Kunst ist endlich von der Exportschau geräumt und dürfte, wie Ministerialdirektor Keim scherzhaft meinte, durch den ‚Blauen Reiter‘ und die lebende Moderne nunmehr gleichermaßen in Ost- und Westflügel entnazifiziert sein.“
Der Ausschnitt ist leider unbezeichnet, aber vom Schriftbild her tippe ich auf die Süddeutsche. Ich werde mir die mal in den Lesesaal der Stabi legen lassen. Aber erstmal muss ich mich durch ein paar Monate vom Völkischen Beobachter wühlen, der hoffentlich ab Freitag für mich bereitliegt. Das macht auch immer eher schlechte Laune. Ich und mein dusseliges Forschungsfeld, ey.
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Über die Abstimmung im Europaparlament zur Änderung des Urheberrechts konnte ich mich nur nebenbei aufregen, weil ich so konzentriert gearbeitet habe. Ich zwinge mich seit Tagen dazu, die Propaganda in der FAZ wenigstens anzulesen, aber ich kriege keinen Artikel zuende, weil ich so wütend bin. Kristina Hofmann vom ZDF kommentiert:
„Denn mehr Schutz für Urheber und Bewahrung der Meinungsfreiheit? Wird es nicht geben, Inhalte werden einfach rausfliegen statt besser vergütet zu werden. Mit dieser Richtlinie hätten stattdessen die Internetkonzerne verpflichtet werden müssen, nennenswerte Abgaben an Verwertungsgesellschaften zu zahlen. Damit hätten die Urheber entschädigt werden können, mit deren Inhalten YouTube schließlich jedes Jahr einen Milliardenbeitrag in zweistelliger Höhe verdient. Bei Verlagen ist das seit Jahren geübte Praxis, beim Radio, beim Fernsehen. Warum soll das im Internet nicht gelten?“
Und Batz erwähnt, wie wenig sich das rückwärts gewandte Denken in manchen Branchen geändert hat, Thread:
Und reden wir bitte auch davon, das die Film,-, Verlags- und Musikindustrie die kompletten letzten 20 Jahre lieber Abmahnkrieg gegen die Konsumenten führte, als ab Anfang der Nuller eigene digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln.
— Batz (@Batz) 26. März 2019