Tagebuch Donnerstag, 25. April 2019 – Kein Beckmann für Gröner
Eigentlich wollte ich um 12 Uhr mal wieder in einem Hörsaal sitzen und mir eine Vorlesung zu Max Beckmann anhören – endlich eine Vorlesung, die die Zeit behandelt, in der ich mich mit der Diss bewege. Aber weil ich gestern im Blog so gequengelt habe, hat das Universum anscheinend zugehört und mir einen Zahnarzttermin genau zu dem Zeitpunkt verschafft, an dem ich vorhatte, die ganzen Senioren um mich herum zu ignorieren und mich auf Unikram zu freuen.
So saß ich stattdessen mal wieder im Zahnarztstuhl, stellte aber befriedigt fest, dass die Schiene jetzt passte und war erstmal glücklich. Durch das Rumdrücken und Zähneklappern, um zu gucken, ob an der Schiene noch was abgeschliffen werden muss, hatte ich aber danach wieder den ganzen Tag Schmerzen, und allmählich weiß ich auch nicht mehr, was ich noch machen soll. Der Zahn ist, wie bereits erwähnt, eh nur noch eine Ruine ohne Nerven und irgendwas, und eine ewig nicht abklingende Entzündung ist laut dem neuesten Röntgenbild auch so gut wie weg, daher weiß ich wirklich nicht, was da überhaupt noch weh tut.
Mir fiel erst gestern auf, dass das der gleiche Zahn ist, für den ich das einzige Mal in meinem Leben in eine nächtliche Zahnarztnotfallsprechstunde gefahren bin; der tat ewig weh und nachts dann so sehr, dass wirklich nichts mehr ging, so dass ich mir morgens um 3 die dickste Spritze ever habe geben lassen, so dass ich wenigstens ein bisschen und ohne weiterzuweinen schlafen konnte. Um 7 Uhr morgens stand ich dann bei meinem Hamburger Zahnarzt auf der Matte, der netterweise so früh Sprechstunde hatte, wo sich erstmal das Model am Empfang darüber beschwerte, dass ich keinen Termin hätte, aber ich war zu kaputtgeschossen, um Dinge nach ihr zu werfen. Der Zahn wurde aufgebohrt, der Nerv vernichtet, die Krone erneuert, die schon drüber war, und seitdem gibt er Ruhe.
Mein zweiter Zahnarzt in Hamburg stellte irgendwann eine Entzündung an den Wurzelenden fest, die noch da waren, er überwies mich zu einem Spezialisten, der sich angeblich damit auskannte, feinst verfieselte Wurzeln auszuputzen, damit da keine Entzündungsherde mehr drin sein könnten, ich lag knapp zwei Stunden mit dem Kopf nach unten bei miesester Musik und spürte dem eifrigen Herrn dabei zu, wie er sich darüber beschwerte, wie verfieselt meine Zahnwurzeln wären. Nach zwei Stunden gab er auf und meinte, der Zahn müsse raus, Zurücküberweisung zum Zahnarzt.
Aber da war ich dann bockig. Der Zahn tat nicht weh, überhaupt nicht, mit der damals neuen Schiene schon gar nicht – der wird nicht gezogen, basta. Mein Zahnarzt war nicht glücklich, meinte, man müsse die Entzündung beobachten, toll wäre das nicht, aber wenn ich nicht wollte, dann eben nicht. Ich wollte nicht, wir beobachteten, die Entzündung war jahrelang da (ich höre das medizinische Fachpersonal wimmern, das hier mitliest, keine Bange), ich zog nach München, vergaß drei Jahre lang, zum Zahnarzt zu gehen, mein schönes Bonusheft wurde wieder auf Null gestellt, dann suchte ich vor zwei Jahren, als sich mein Leben so langsam wieder beruhigte, den Arzt in meiner Nachbarschaft auf, an dessen Praxisschild ich beim Einkaufen immer vorbeikam, der Mann putzte ohne großes Tamtam die Wurzeln aus, füllte den Zahn auf, und seit dem Röntgenbild von vor zwei Wochen weiß ich, dass die Entzündung weg ist. Iss das, Hamburch!
Aber jetzt zickt halt irgendwas an dem toten Stumpf doch rum. Ich hoffe, meine schöne Schiene kriegt das wieder hin. Und wenn nicht, ist seine Stunde anscheinend doch mal gekommen. Seufz.
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Bei einem Spontantermin muss man natürlich etwas im Wartezimmer rumsitzen, aber das war mir sehr recht, denn die Albert-Speer-Biografie von Magnus Brechtken liest sich ganz herrlich weg und aus den Fußnoten habe ich mir, wie immer, schon mehrere Bücher rausgesucht, die vielleicht für die Diss interessant wären. Speer hatte Anfang der 30er Kontakt mit Paul Ludwig Troost, den ich natürlich als Architekt des Hauses der Kunst kenne sowie der NS-Bauten am Königsplatz; in einer von denen befindet sich heute das ZI. Aber auf die Idee, eine Troost-Biografie anzulesen, um zu gucken, ob da vielleicht auch Protzen auftaucht, ist mir bisher noch nicht eingefallen; aus einem privaten Fotoalbum im Nachlass kenne ich Fotos, die Protzen bei der Grundsteinlegung des Hauses der Kunst 1933 gemacht hatte. Und vielleicht ist auch in den Goebbels-Tagebüchern, die Brechtken viel zu Rate zieht, was zum Autobahnbau zu finden.
Eine Formulierung, im Zitat von mir gefettet, kannte ich noch nicht, habe sie aber auf Anhieb als sehr passend gesehen:
„Wie so viele Nationalsozialisten, die Hitlers Kanzlerschaft euphorisch begrüßten, begann Speer seine Rolle im neuen Regime seit dem Januar 1933 rasch zu etablieren. […] sein Aufstieg war kein Selbstläufer. […] Dabei fällt auf, dass er in den ersten zwei Jahren primär als Agent in eigener Sache handelte, um sich zunächst einmal durchzusetzen. Zugleich verstand er sich als Teil der neuen Macht, die sich legitimiert sah, den Staat und dessen Mittel an sich zu reißen. Er agierte dabei wie ein expansiver Unternehmer, eroberte sich einen Marktanteil und sicherte sein eigenes Herrschaftsgebiet.
‚Leute wie Speer oder Heydrich akzeptierten nicht die Grenzen, die ihnen die Wirklichkeit setzte‘, hat Michael Wildt zu Recht betont, ‚sondern wollten sie mit noch radikaleren Mitteln durchbrechen, um ihre Ziele zu erreichen.‘ Speer war ein Prototyp dieser ‚Generation des Unbedingten‘, die im Nationalsozialismus hinter der Fassade uniformierter Bürgerlichkeit und akademischer Fachlichkeit ihre sozialdarwinistischen, Gefühle demonstrativ ablehnenden Einstellungen auslebte. Aufstiegswille, Machtbewusstsein und Bereicherungsabsicht liefen bei ihr regelmäßig ineins. Dass sich dies mit der nationalsozialistischen Rassenkampfideologie verband, ist kein Zufall, sondern entsprang einem Lebenskalkül.“
Magnus Brechtken: Albert Speer: Eine deutsche Karriere, München 2017, S. 45.
Da kann man jetzt durchaus Parallelen zu einer neueren Partei ziehen, aber das überlasse ich euch.
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Als Stadionbuch ist Speer leider zu dick, das passt in keine Jackentasche. Da steckt stattdessen momentan ein Buch von Ruth Klüger, aus dem ich auch noch ein Zitat habe. Es geht um „Frauenromane“ des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und ich musste sofort an Fontane denken, auch wenn der nicht in diese Kategorie fällt:
„Die Traditionsgebundenheit dieser Literatur ist dermaßen stark, dass sie überhaupt nur solche Leser ansprechen kann, die sich mit dem Status quo abfinden müssen oder glauben, es zu müssen. Sie trägt zur Anpassungsfähigkeit der Minderberechtigten bei, und nur in diesem Sinne handelt es sich um ‚Frauen‘-Romane. Denn ein vorurteilsloser Beobachter könnte doch wohl erwarten, dass diese Bücher das weibliche Leben mit liebevoller Sorgfalt und realistischen Einzelheiten beschreiben. Davon kann aber gar keine Rede sein. Vom Alltagsleben der Frauen wird nur sehr beschränkt gehandelt; Küche und Kinderzimmer, wo ja die Mehrzahl der Frauen ihre Lebensarbeit verrichten, sind nur selten der Schauplatz der Ereignisse. Schwangerschaften werden idealisiert oder ausgelassen; Kinder kommen in höchstens zwei Sätzen zur Welt, von denen anderthalb von der Aufregung des Vaters, ein weiterer halber von der Blässe der Mutter berichten. Einmal zur Welt gekommen, brauchen diese Wesen offenbar keine Windeln; denn die eigentliche Mühe der Kinderpflege wird ausgeklammert, während Männerarbeit stets betont wird. Menstruiert wird nie, nicht einmal andeutungsweise.“
Der Aufsatz ist bereits von 1974, heute dürfte das jede*r klar sein, aber ich mochte die Formulierung gerade zur Geburt so gern.
Ruth Klüger: Frauen lesen anders: Essays, München 2016, Erstauflage 1996, S. 12.