Tagebuch Mittwoch, 18. September 2019 – Dachau
Nach dem Schreiben des gestrigen Blogeintrags hatte ich schlechte Laune. Dieser ganze verdammte Nazidreck frisst mich an manchen Tagen mehr an als an anderen; mir ist schon klar, dass ich das Thema meiner Dissertation selbst gewählt habe und damit auch in der Konsequenz eine Beschäftigung mit dem „Dritten Reich“, die weitaus intensiver ist als im bisherigen Studium. Ich kann heute nicht mehr nachvollziehen, wie ich auf die nun folgende Tagesgestaltung gekommen bin, um meine schlechte Laune loszuwerden, aber immerhin habe ich damit einen Punkt abhaken können, den ich seit sieben Jahren, seitdem ich in München wohne, vor mir herschiebe: einen Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Dabei fiel mir natürlich auch wieder ein, dass ich fünfzehn Jahre lang in Hamburg gewohnt habe und niemals in Neuengamme war. Überhaupt ist es, wer hätte es gedacht, für so ziemlich jede*n Deutsche*n recht einfach, zu NS-Gedenkstätten zu kommen – es gibt, aus Gründen, recht viele davon.
Als Schülerin aus der Nähe von Hannover besuchte ich mit unserer Klasse Bergen-Belsen, und im Rahmen einer Klassenfahrt nach Prag waren wir in Theresienstadt. Im Zuge dreier Fahrten in den Süden der damaligen DDR habe ich dreimal Buchenwald gesehen. Die Ausstellung im Museum hörte damals mit roten Fahnen, einem Honecker-Bild und einer Nachbildung des antifaschistischen Schutzwalls auf, mit dem ja bekanntlich alles gut geworden ist. Das scheint sich glücklicherweise inzwischen geändert zu haben. Um Auschwitz habe ich mich bisher gedrückt bzw. aus diesem Grund vor einer Reise nach Polen, wo ich eigentlich gerne mal hinmöchte (Danzig! Krakau! Breslau! Und nebenan Kaliningrad (Königsberg)! Und das Geburtsörtchen meiner Mutter), aber dann doch nicht hinfahre, denn wenn ich da bin, müsste ich nach Auschwitz. Das sagt mir mein Kopf jedenfalls, mein Bauch will davon nichts hören. Wir diskutieren noch.
Weil ich mich den ganzen Tag mit dem Nazischeiß beschäftige, versuche ich ihn ab und zu von mir wegzuschieben – indem ich zum Beispiel über die Blumenstillleben im Haus der Deutschen Kunst rede und den harmlosen Landschaften wie gestern im Blogeintrag. Indem ich die Harmlosigkeit der Bilder hervorhebe, von denen keine propagandistische Gefahr ausgeht, wenn man sie betrachtet, weswegen man sie meiner Meinung nach ruhig an Museumswände hängen dürfte, wenn auch als schlechtes Beispiel, mache ich sie aber gleichzeitig kleiner als sie sind. Sie sind immer noch Bausteine eines unmenschlichen Systems, und um nicht jeden Tag schlechte Laune zu haben, denke ich bei Autobahnbildern eben an Landschaften mit Straßen drin und nicht an Zwangsarbeiter, die dafür Steine klopfen mussten. Dieses schizophrene Arbeiten vereint übrigens die meisten Doktorand*innen, mit denen ich im Kolloquium gesprochen habe. Einer meinte ganz ehrlich, er wüsste nicht, wie man Holocaustforschung betreiben könnte, ohne wahnsinnig zu werden, denn den kann man nicht so schön von sich wegschieben wie wir unsere Blümchenbilder. Oder ich in meinem Fall Bilder von allen bayerischen Seen und Bergen, die es gibt. Gefühlt hat Protzen das ganze Land einmal abgemalt.
Und so holte ich mich selber wieder aus der Drückebergerecke heraus und setzte mich in einen Regionalzug nach Dachau, der lächerliche elf Minuten brauchte. Mir war wirklich nicht klar, wie nah das Dörfchen an München dran ist. Nebenbei: Ich stolpere immer noch über die Dachauer Straße in meiner Nachbarschaft, weil Dachau für mich eben nicht das Dörfchen ist, sondern das KZ. F. erzählte mir die Story eines FC-Bayern-Fanclubs aus Dachau, die ihr Banner, auf dem der Ortsname stand, nicht bei einem internationalen Spiel über die Brüstung des Sitzranges hängen durften – für andere ist dieser Name nämlich auch eher Synonym für Naziterror anstatt nur eine Ortsbezeichnung.
Vom Bahnhof fährt ein Bus direkt zur Gedenkstätte, der sehr voll war. Um mich herum fast nur englischsprachige Menschen. Im Besucherzentrum holte ich mir einen Lageplan, denn ich wollte vor allem ein Kunstwerk sehen: die Skulptur von Nandor Glid, die 1968 enthüllt wurde und vorne auf dem Flyer abgebildet ist. Leider ist sie gerade zur Sanierung eingerüstet, was ich nicht mitbekommen hatte.
Man betritt das Lager durch das sogenannte Jourhaus, im Lagertor steht „Arbeit macht frei“. Es ist eine Nachbildung, das Original wurde 2014 gestohlen, ist inzwischen aber im Museum zu besichtigen. (Alle irre.) Das Museum befindet sich im ehemaligen Wirtschaftsgebäude am Kopfende des langgestreckten Areals, dahinter ist noch das Lagergefängnis zu besichtigen. Ich ging erstmal auf den Platz vor dem Wirtschaftsgebäude, wo die eingerüstete Skulptur steht. Man geht in eine Art Senke und schaut dann nach oben, was ich in dieser Einfachheit sehr bewegend fand. Selbst wenn man auf eine Bauplane guckt, auf der das Werk abgebildet ist. Man kann es dahinter aber noch erkennen, und ich wusste nicht, wie groß es ist.
Ich schaute mir die Sicherungsanlage mit Wachturm und Außenmauern an, mit den Lampen und dem Stacheldraht, ich ging in eine rekonstruierte Baracke, wo gerade mehrere Schulklassen ihren Führungen lauschten, und dann ging ich das ganze Gelände ab, das nur noch aus Betoneinfassungen besteht, wo früher einmal die anderen 32 Baracken gestanden hatten. Am Fußende des Geländes liegen mehrere Gedenkstätten verschiedener Konfessionen; ich ging nur in die jüdische und die katholische. Am dortigen Ende liegt auch der ehemalige Krematoriumsbereich, den ich ausließ. Nach den Öfen und den Seziertischen in Buchenwald möchte ich derartiges nicht mehr sehen.
Im Museum stand ich sehr lange vor den Stationen mit der Berichterstattung über das Lager. Dass sich diese wilde Ausrede – „wir haben ja nichts gewusst“ – überhaupt so lange halten konnte, macht mich immer fassungsloser, je länger ich mich mit dem Thema beschäftige. An den ausgestellten Zeitungsartikeln war netterweise die Quelle angegeben, und jetzt weiß ich, dass ich mir im Stadtarchiv München eine vermutlich recht umfangreiche Sammlung an Zeitungsausschnitten über das Lager ausheben lassen kann. Auf das KZ bin ich nämlich auch bei Recherchen zu Protzen gestoßen, der angeblich „mit Dachau bedroht“ wurde. Hier der bisherige Ausschnitt aus meiner Diss dazu, von dem ich noch nicht weiß, ob er drin bleibt:
„Das Wissen über Konzentrationslager war, entgegen der Aussagen vieler Deutscher nach 1945, durchaus vorhanden, auch schon 1933. Janosch Steuwer erwähnt in „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse.“ Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939 diverse Tagebucheinträge von Personen unterschiedlicher sozialer und politischer Hintergründe, die zeigen, dass von Beginn der NS-Herrschaft an Konzentrationslager und mindestens ihre Funktion als Arbeitslager bekannt waren. Ein Gelegenheitsarbeiter besichtigte laut seiner Tagebuchaufzeichnung das Konzentrationslager Dachau „im Rahmen einer Radtour am Ostersonntag [1933]“. [1] Im Jahresbericht 1933 eines Landwirts erwähnt dieser: „Im benachbarten Sachsenburg ist ein derartiges Lager“, wo die Insassen „allerhand Arbeiten unter polizeilicher Bewachung“ erledigen müssten. [2] Am 15. Oktober 1933 notierte ein Schuldirektor in Bezug auf die bevorstehende Reichstagswahl im November: „Die Zeit des Parlamentarismus soll doch endgültig vorbei sein. […] die Führer [der Parteien], soweit sie nicht in Gefängnissen oder Konzentrationslagern sitzen, haben sich zurückgezogen.“ [3]
[1] Steuwer 2017, S. 64.
[2] Ebd., S. 93.
[3] Ebd., S. 356.
Es gibt noch einen Fußweg zum Bahnhof, den sogenannten Weg des Erinnerns, den ich vielleicht beim nächsten Mal abgehen werde. Gestern war ich nach dem Besuch, wer hätte es gedacht, noch schlechter gelaunt als vorher. Könnte auch an den üblichen Schulklassen gelegen haben, die gerade auf der Rückfahrt im Bus lautstark möglichst cool und unbeteiligt wirken wollten. Pubertät ist so eine anstrengende Zeit, und allmählich glaube ich, für die Umstehenden eher als für die hormongeplagten Teenager. Generell fand ich es aber schon interessant zu sehen, dass die Gedenkstätte recht gut besucht war und eben nicht nur von Schulklassen, sondern auch von Einzelpersonen wie mir oder kleineren Gruppen und Paaren. Einige schienen individuelle Führungen gebucht zu haben, ich hörte mehrere Fremdsprachen, aber vor allem Deutsch.
Ich fuhr erneut elf Minuten nach München zurück und gönnte mir vom Lieblingsmetzger eine Leberkässemmel, das Heilmittel für alles, auch für anstrengende Tage. Das ahnt man als Norddeutsche ja gar nicht, wie gut dieses Zeug tut. Den Rest des Tages war ich eher stumm und las dringend Kram, der nichts mit der Diss zu tun hat. Ich brauche mal eine Pause von dem ganzen Rotz, glaube ich.