Tagebuch Samstag, 21. Dezember 2019 – Auf die Ohren, in den Kopf
Den halben Tag im Zug verbracht, um in den Norden zu kommen. Dabei, wie neuerdings immer, Podcasts und ähnliches gehört.
Ich begann mit einem Stündchen Wrint, dieses Mal über die USA, Holger Klein, dessen Stimme ich ewig zuhören könnte, im Gespräch mit dem scheidenden USA-Hörfunkkorrespondenten Martin Ganslmeier.
Danach googelte ich nach „Podcast Geschichte“ und stieß auf Deutschlandfunk Nova, die mit Eine Stunde History etwas Nettes im Angebot haben. Die Sendung ist kein reines Gespräch, sondern setzt sich aus mehreren Konversationen, gerne mit Expert*innen, und nachgespielten und -erzählten Szenen zusammen. Ich hörte über Spotify die Folge über die Warenhäuser von Leonhard Tietz, die – natürlich, herrgottnochmal – in den 1930ern „arisiert“ wurden und die irgendwann Kaufhof hießen.
Anschließend hörte ich das neue Album von Harry Styles durch, über das @nilzenburger einen schönen Thread geschrieben hatte, den ich fast komplett abnicken kann, besonders die Beschreibung zu „Sunflower“.
Für noch mehr Hören reichte die Zeit nicht so recht, ich schnappte mir mein neuestes Lesergeschenk zur Radikalisierung des Adels bis hin zum Nationalsozialismus, mit dem ich nicht bis zum Tannenbaum hatte warten wollen. Hätte ich vielleicht machen sollen, dann hätte ich mir schlechte Laune erspart. Ich habe noch nicht mal die Einleitung durch, aber die Definition des Begriffs „Radikalisierung“ ließ mich etwas zusammenzucken; das fühlt sich leider gerade sehr aktuell an. (Das Buch ist von 2003.)
„Als Radikalisierung wird im folgenden ein Ensemble von Elementen bezeichnet, die gleichermaßen Wahrnehmung, Denken und Handeln der Akteure betreffen. Diese Elemente sind:
a) Veränderung und Bewegung: Radikalisierung bezeichnet prozeßhafte Veränderungen im Denken und Handeln von Menschen. Radikalisierung entsteht in Reaktion auf strukturelle Umbrüche und führt selbst zu strukturellen Veränderungen im Denken und Handeln. Radikalisierungsprozesse werden von kleinen, hochaktiven Minderheiten initiiert und gesteuert. Historische Bedeutung erlangen die Verstöße radikaler Minderheiten nur dann, wenn sie von einer (passiven) Mehrheit unterstützt, zumindest aber geduldet werden. Scharfe Kritik am Status quo verbindet sich stets mit unscharfen Entwürfen einer ‚besseren‘ Zukunft.
b) Reduktion und Dichomitisierung: Radikalisierung geht mit der Ausblendung einzelner Wirklichkeitsbereiche einher: eine Tendenz zur Reduktion komplexer Zusammenhänge, die auf schwierige Fragen vermeintlich einfache Antworten hervorbringt. Es entstehen zunehmend dichotome Weltbilder mit einer schlichten Trennung zwischen Freund und Feind, die als antagonistische Pole konstruiert werden, zwischen denen jede Vermittlung ausgeschlossen erscheint. Auf diese Weise hängen der Abbruch des Dialogs und der Weg in die Gewalt zusammen. In den Worten von Anthony Giddens: ‚Where dialogue stops, violence begins.‘ Die größtmögliche Einheit der ‚Freunde‘ und der möglichst vollständige Ausschluß der ‚Feinde‘ sind zwei Seiten einer Forderung. Die Forderung nach ‚Reinheit‘ und die Praxis der Gewalt gehören im Radikalisierungsprozeß meist zusammen.
c) Emotionalisierung: Die transportierten Inhalte sprechen weniger die kognitive als die affektive Wahrnehmung an. Sie sollen nicht argumentativ überzeugen, sondern emotional beeindrucken.
d) Brutalisierung der Sprache: Die Veränderung der gedanklichen Inhalte drückt sich in der Schaffung neuer, aggressiv aufgeladener Begriffe, Metaphern und Symbolsets aus. Die ‚Entmenschlichung‘ des politischen Gegners bzw. ‚Feindes‘ manifestiert sich sprachlich oft in Begriffen aus der Tierwelt. Parallel zur sprachlichen Verwandlung des ‚Feindes‘ in Ungeziefer wandeln sich die Verben: aus überzeugen, in die Schranken weisen, schlagen, ausweisen werden ausmerzen, zertreten, vertilgen, vernichten, ausrotten.
e) Brutalisierung der Mittel: Die Entstehung neuartiger Organisationsformen und Aktionsformen, in denen ‚entschiedenes‘, ‚hartes‘ oder ‚radikales‘ Handeln bzw. Durchgreifen gefordert, ermöglicht und realisiert wird.
f) Tendenz zur Anarchie der erzeugten Gewalt: Die Abnahme der Steuerungsfähigkeit von Ausmaß und Ausrichtung der freigesetzten Gewalt – ein Zauberlehrlingseffekt, bei dem sich Gewalt leichter erzeugen als dauerhaft steuern läßt. Da sich die geforderte Gewalt schließlich gegen ihre Initiatoren wenden kann, weisen Prozesse der Radikalisierung meist eine Tendenz zur Selbstzerstörung auf.“
Quelle: Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2010, S. 18/19.
Trotz des unangenehmen Inhalts musste ich zweimal grinsen. Das Wort „initiieren“ hat mir mein erster Chefredakteur gründlich ausgetrieben, das wurde immer rausgestrichen, bei allem, weil das Wort eher unleserlich ist. „Anstoßen“, „auslösen“, etc. lassen sich eindeutig besser erfassen und aussprechen.
Und der Begriff der Dichotomie ist das Buzzword für jede Lebenslage meines Doktorvaters. Ich glaube, ich kenne keinen Aufsatz von ihm, in dem das nicht vorkommt.