Nachtrag Tagebuch 28. bis 30. Dezember 2019 – Mal wieder Wien
Ach, Wien, auf dich freue ich mich immer so, da nervt der fies frühe Zug um kurz nach 7 auch nur ein bisschen. Im Zug war ich dann genervter, weil so ziemlich der halbe Großraumwaggon hustete, aber: Bis heute keine Erkältung! Mein Immunsystem scheint sich wieder im Griff zu haben. (Oder mein ewiges Wegducken und Shirt vors Gesicht halten haben geholfen.)
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Die App der Wiener Linien heißt inzwischen Wien Mobil, wie ich netterweise noch vor der Abfahrt aus München feststellte. Damit buchten wir auf der Rolltreppe zur U-Bahn entspannt zwei 48-Stunden-Tickets, denn mehr Zeit hatten wir dieses Mal nicht.
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Wie immer im Lieblingshotel genächtigt, dieses Mal sogar ein Upgrade bekommen und uns über viel Platz gefreut.
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Nachdem wir so früh losgefahren waren und dringend was essen mussten, ging der erste Weg natürlich zum Bitzinger an der Albertina, wo ich eine Bosna erstand. Diese Wurstspezialität war mir bisher nur vom Augschburger Weihnachtsmarkt bekannt, wo ich bei jedem Konsum darüber meckere, dass auf die heiße Wurst eiskalte Zwiebeln und eine fast ebenso kalte Sauce kommen. Nicht so hier: Wurst, Zwiebeln (nicht eiskalt!), Currypulver und – frischer Koriander. Man sieht die Wurst gar nicht mehr unter dem herrlichen Zeug.
Einen Nachteil hat die Köstlichkeit aber doch: Als ich kurz darauf F. küssen wollte, zuckte er spaßeshalber zurück: „Bosna breath!“ Guter Name für eine Fun-Punk-Band.
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Wir hatten, im Gegensatz zum letzten Besuch, nur ein leichtes Programm geplant, hauptsächlich wollten wir entspannen und schlafen. Daher: keine 17 Museen, kein Sterneessen. Aber mei, wenn man schon da ist und einem in der U-Bahn am Bahnhof schon ein Plakat mit Henrike Naumann entgegenlacht, die derzeit auch im Haus der Kunst zu sehen ist, dann geht man da halt hin. Bzw. nimmt die Tram, was für mich ja eh immer das schönste Verkehrsmittel ist. Wie immer in Wien dauerte es gefühlt fünf Sekunden, bis ich wieder der Pracht des untergegangenen Vielvölkerstaats und Kaiserreichs hinterhertrauerte und Dinge dachte wie: Für so opulent breite Straßen haben wir in D einen Weltkrieg gebraucht.
Im Belvedere 21 (dessen Website gerade nicht erreichbar ist, bitte selbst googeln) begannen wir dann mit der eben angesprochenen Naumann und ihrer Arbeit Das Reich. Ich kannte ihre Möbelinstallationen bisher nur als Ansicht, stand aber noch nie in einer. Das Thema Reichsbürger und Neonazis war irritierend-anstrengend umgesetzt, vor allem ein eingespielter Film blieb noch lange im Kopf. Es fühlt sich nicht mehr richtig an, die sogenannten Reichsbürger als aluhuttragende Spinner abzutun, das wurde mir spätestens dort klar.
Ein Stockwerk über Naumann war eine weitere Installation zu sehen: Eva Grubinger zeigte mit Malady of the Infinite eine sinnlose, weil nicht seetüchtige Hülle einer riesigen Yacht, in der man herumspazieren konnte. Guter Flyertext: „Malady of the Infinite zeichnet ein Bild von struktureller Ungleichheit, von unendlichem Begehren ohen Aussicht auf Befriedigung. Grubinger bezieht sich dabei auf einen Text des Soziologen Émile Durkheim, nach dem wir ‚am Unendlichen‘ leiden – an einem unbegrenzten Begehren, das materiell nie erfüllt werden kann.“
Eine überraschende Entdeckung war dann im letzten Stockwerk Josef Bauer, den wir beide vorher nicht kannten. Im ersten Raum dachte ich noch, och jo, hmpf, na gut, aber im zweiten hatte er mich dann, denn da begannen seine Arbeiten mit Worten, und mit Worten kriegt man mich ja immer. Der Katalog beginnt mit dem Satz „Man kann alles mit allem verbinden“ und auch das hat mich gekriegt. Bauer bastelt Buchstaben auf lange Stangen, die man mit sich herumtragen kann, lässt Menschen Buchstaben durch Landschaften schleppen, trägt Gesichter aus Werbeanzeigen mit Aceton ab oder überdeckt alte Postkarten mit dicken Farbschichten, ergänzt alte Musterbücher mit Materialien oder Gemaltem, hängt mal eben Buchstaben als eine Art Decke über eine Stuhllehne, irritiert mit blauen Wänden, an denen in gelb das Wort „rot“ steht. Neben der sinnlichen Herangehensweise, die mir sehr gefallen hat, erwischten mich auch diverse politische Aussagen. Inzwischen erkenne ich NS-Kunst ziemlich gut und so musste ich nicht erst den Wandtext lesen, um die ollen Statuen auf Postkarten als Breker-Werke zu erkennen, die Bauer ebenfalls teilweise übermalt hatte. Eine weitere Arbeit nutzte Textschnipsel von Heimrad Bäcker, die von Deportationen und Vergasungen handelten, und auch hier überdeckte Bauer, verwischte, irritierte und machte die Texte dadurch noch stärker.
Naumann und Bauer laufen nur noch bis zum 12. Januar, falls ihr noch Gelegenheit habt, huscht mal durch.
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Nach einem Abstecker zum Lieblingsschokoladenladen und einem Flat White nebenan genossen wir Freizeit im Hotelzimmer und gingen abends ins Rebhuhn, unser liebsten Adresse für Schnitzel und Backhendl.
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In den Sonntag schliefen wir rein, waren aber trotzdem recht früh wach, vielleicht auch, weil unser einziger wirklicher Programmpunkt wartete: die Albrecht-Dürer-Ausstellung in der Albertina.
Die Albertina besitzt, soweit ich weiß, mit eine der größten Sammlungen weltweit an Dürer-Zeichnungen und -Drucken, deren Provenienz sie, laut stolzem Katalog, „bis in Dürers Erbmasse“ nachweisen kann. Netterweise kann man sich alle Werke auch online anschauen, wenn auch nicht in irre großer Auflösung. (WARUM NICHT?) Wegen der Fragilität der Stücke sind sie nicht ständig zu sehen, aber so alle zehn Jahre holt das Museum ihre Schätze mal wieder ans Licht.
Wir hatten schon Tickets und konnten daher die schon um 10 Uhr morgens beachtlich lange Schlange umgehen, betraten die Ausstellungsräume dann aus dem Fahrstuhl heraus anstatt über die Treppe, weil ich Fußlahme Treppen bekanntlich hasse, und mussten so erstmal rückwärts durch die Ausstellung zum ersten Raum gelangen. Wir blieben aber irgendwo in der Mitte stehen, denn dort hingen an einer Wand nebeneinander der Flügel einer Blauracke (um 1500), der als Postermotiv in ganz Wien zu sehen ist, der knuffige Feldhase (1502), den alle kennen, und mein Liebling, das große Rasenstück (1503). Ich habe keine Ahnung, warum ich Grashalme toller finde als die putzigen Barthaare des Karnickels, aber egal, ich stand vor dem Rasenstück und staunte. Und staunte weiter. Und staunte einfach noch ne Runde. Ich ahne so langsam, warum ich diese Naturstudie so mag: weil sie im Nichts stattfindet. Sie hat keinen Hintergrund; der Hase sitzt in einem undefinierten Raum, das Rasenstück hört einfach auf bwz. stößt fieserweise an alle Bildränder, so dass man noch weniger weiß, wie es weitergeht, aber man ahnt, dass es weitergeht.
Im selben Raum hängt das Aquarell Tal bei Kalchreuth (um 1495–1500), das mich sehr unerwartet erwischt hat. Ich ahne, dass es damit zusammenhängt, dass ich seit Monaten auf blöde Landschaften eines mittelbegabten Malers gucke, dass mich diese Landschaft, die wie mal eben hingeworfen aussieht, so faszinieren konnte. Eben weil sie so hingeworfen aussieht, während ich ahne, dass Protzen, der alte Streber, sich um jeden blöden Baum Gedanken gemacht hat. Vermutlich hat Dürer das auch, aber das sieht man dem Bild nicht an.
Irgendwann war ich dann auch in Raum 1 angekommen, wo alle aus dem Treppenhaus hinaus reinstapften und mit dem Audioguide am Ohr vor jedem Bild stehenblieben. Das habe ich mir längst abgewöhnt, gerade bei Blockbuster-Ausstellungen, bringt eh nichts. Ein Bild aus dem ersten Raum wollte ich aber dringend sehen: Dürers vermutlich erstes überliefertes Werk, sein Selbstporträt als Dreizehnjähriger (1484). Ich erinnerte mich an mein erstes Semester, wo eine Dozentin erzählte, sie hätte über frühe Porträts gearbeitet und die Albertina gebeten, mal einen Blick auf eben dieses Bild werfen zu dürfen, woraufhin das Museum freundlich ablehnte. Ich dachte damals, Kunsthistoriker*innen, Profis! ständen immer alle Kunstkammern offen, aber: anscheinend nicht. Jetzt wartete ich brav, bis die Schlange mal eine winzige Lücke freigab, schlüpfte hinein und staunte erneut.
Aber nicht lange, denn da hing ja noch so viel mehr! F. und ich trafen uns immer zwischendurch, machten uns auf Werke aufmerksam, guckten aber eher getrennt. Ich blieb sehr überraschend – überhaupt war für mich quasi alles überraschend an diesem Vormittag, ich meine, Dürer, den kennt man doch, aber nee, anscheinend nicht – vor einem Stich des Hl. Eustachius stehen. Heiligenbilder sind mir eher wurst, aber hier faszinierte mich die gefühlte Dreidimensionalität des Werks. Das gibt der Katalog nicht wieder und auch die Online-Ressource nicht, aber wenn man davor steht, und DESWEGEN GEHT GEFÄLLIGST IN MUSEEN UND KLICKT NICHT NUR DIE WIKIPEDIA DURCH, sieht man so viele Details, die im Druck zusuppen und online sowieso abstinken.
Ich erspare euch meine ganzen Gedankengänge, aber wir fangen trotzdem einfach mal oben an. Dass um den Bergfried Vögel kreisen, habe ich erst nach zehn Minuten gesehen, so sehr hatte mich das spitze, zackige Gewächs unter dem Turm links davon im Bann. Alleine diese ungefähr sechs Quadratzentimeter Blatt ließen mich nicht los, die Zinnen des Turms, die fast skulptural gestalteten Felsen und dann eben der Strauch, der an ihnen wächst. Ich war so kurz davor, mit den Fingern über das Blatt streichen zu wollen, weil es eben so plastisch aussah, dass ich nicht glauben konnte, dass da bloß Tinte auf Papier vor mir hängt. Die Gestaltung des Baums rechts im Bild: oben feiner und dunkler ausgearbeitet als unten. Das Kruzifix im Hirschgeweih: fast ein Heiligenschein zu erahnen. Die Schuhe und der Gürtel des Heiligen: die Details! Und so weiter und so fort. Vor dem Bild blieb ich länger als vor dem Rasenstück.
Irgendwann trafen F. und ich uns wieder, beide überwältigt. Ich so: „Ob hier auch das Rhinozeros hängt?“ — „Oder die Melencolia?“ — Beide: „Nee, das wäre zuviel. Hier hängt ja schon Irrwitziges.“
Ich bestaunte die grüne Passion, kannte ich noch nicht, toll, die verschiedenen Kleidungsstile von Nürnberger Frauen, das Männer- und das Frauenbad, die Ansichten aus Innsbruck, die ebenfalls im Nichts stattfanden, kein Himmel über der Stadt wie beim Hasen, ich mochte das so sehr.
Nach der Passion waren wir wieder in dem Raum, den wir als erstes betreten hatten – und entdeckten, an welchen Werken wir vorbeigerannt waren. Links vom Fahrstuhl hing das Rhinoceros – und rechts davon hingen die drei Meisterstiche Dürers und damit natürlich auch Melencolia I. Hier blieb ich ähnlich lange wie vor dem Eustachius, weil ich nicht glauben konnte, ein Schlüsselwerk der Kunstgeschichte vor Augen zu haben. Und netterweise viel Platz dazu, denn das hier war der vorletzte Raum, die meisten Besucher*innen waren schon leergeguckt vom Zeug am Anfang und rannten hier eher durch. So konnte ich stehen und staunen – und erneut feststellen, wie bereits in den Sälen vorher, dass mir die wenigen bunten Gemälde gerade total egal waren und ich der Druckgrafik verfallen war.
Im letzten Saal dann noch die betenden Hände, das hatte ich schon ganz vergessen, dass die ja auch noch da waren. Ich habe Melencolia gesehen, damit war ich beschäftigt.
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Eigentlich gucken wir uns in Museen, für die wir Eintritt bezahlt haben, alles an, was da ist, aber nach dieser Ausstellung wollten wir den Rest des Hauses nicht mehr sehen. Im Untergeschoss waren gerade Warhol und Richter und Zeug, aber F. meinte sinngemäß, dass die jetzt vermutlich wie unbegabte Schmierfinken aussähen. Wir spazierten ein wenig durch die Gegend, als ich meinte, ich hätte ein bisschen Rückenschmerzen. F. so: „Vielleicht drückt das auf die Wirbelsäule, wenn du zwei Stunden lang den Mund offenstehen hast.“
Er zeigte auf dem Handy einen Bildbeweis: „Du beim Dürer-Angucken.“
Pfft. Wenigstens bin ich niedlich.
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Der Blogeintrag muss hier aufhören, denn das war großartig. Daher nur noch stichpunktartig: Eva Hesse im Mumok, eine meiner Lieblingskünstlerinnen, war eher enttäuschend – ein eingespielter Film über sie brachte mir mehr als so gut wie alle ausgestellten Zeichnungen, aber immerhin ein paar konnten mir ihre Entwicklungsstufe zwischen Flachware und Skulptur (die ich von ihr verehre) klarmachen. Der Rest das Hauses war geschenkt, bis auf einen Raum mit Heimrad Bäcker, den wir ja einen Tag vorher in der Bauer-Ausstellung kennengelernt hatten.
Abends dann große Freude über hervorragendes Essen und ebenso gute Weine im Mast. Als wir beide das Fünfgangmenü orderten, kam die Frage, ob wir bei jedem Gang vielleicht zwei unterschiedliche Gerichte haben und die teilen wollten? Wollten wir! So aßen wir uns durch fast die gesamte Karte und ich bedauere es sehr, so weit von dem Laden wegzuwohnen, denn dort würde ich gerne deutlich öfter hingehen.
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Zurück in München ein Bild von Leo von Welden aus der Küche abgehängt und drei Postkarten von Josef Bauer, die in der Ausstellung auslagen, eingerahmt und aufgehängt. Jetzt dauernd Heimweh nach Wien. Ach, Wien.