Tagebuch Montag bis Freitag, 10. bis 14. Februar 2020 – Auto statt Aussteuer
Man gewöhnt sich vermutlich nie so richtig daran, wenn das Gehirn einer geliebten Person auf einmal anders funktioniert als vorher, aber die Woche war weniger stressig als die letzten Male, als ich daheim war, um meine Mutter bei der Pflege meines Vaters zu unterstützen. Für ihn werde ich immer in Hamburg wohnen, aber das ist okay. Gestern morgen verabschiedete ich mich bis zum nächsten Mal und er meinte wie immer, ich hätte es ja nicht so weit.
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Der ganze bürokratische Aufwand, der mit einer zu pflegenden Person einhergeht, lässt allmählich nach. Trotzdem hat meine Mutter noch genug zu tun, muss noch immer dauernd irgendwo anrufen und Dinge erfragen, aber es wird. Die Pflegenden sind alle toll, Papa kommt mit allen klar – mit einigen besser, mit anderen weniger, aber das wäre auch nicht anders, wenn sein Kopf noch wie vor dem Schlaganfall wäre.
Dieses Mal konnte ich abends mit dem Mütterchen, wenn wir darauf warteten, dass Väterchen einschläft, ein bisschen mehr über anderen Kram klönen als Orgazeug. Sein Einschlafen zieht sich manchmal etwas; er nickt gerne weg, wacht dann wieder auf, ist orientierungslos, ruft nach irgendjemanden, an den er sich erinnert, und dann geht man halt zwei-, drei-, viermal in sein Zimmer, beruhigt ihn, bringt irgendwann ein Stück Schokolade mit und versucht rauszufinden, was ihn jetzt gerade davon abhält, einzuschlafen. Vorgestern dachte er, er müsste mir noch ein Kissen geben, einen Abend davor verstand er nicht, wieso er nicht im oberen Stockwerk schlafen könne wie wir, weil er vergessen hatte, dass er gerade nicht gehen kann. Manchmal denke ich, mein Kopf ist nicht viel anders, der grübelt abends auch über Quatsch, den er nicht ändern kann oder nicht versteht.
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Die Vormittage konnte ich teilweise länger an der Diss sitzen; meine Mutter konnte ausschlafen, ich machte Papa Frühstück, ließ die Pflegekräfte ins Haus, danach schläft Papa gerne noch ein bisschen, weil das anstrengend ist, und weil das Mütterchen die außerhäusigen Termine in die Woche legt, in der ich da bin, konnte ich in Ruhe am Küchentisch am Laptop sitzen.
Am Mittwoch habe ich ein kleines Meilensteinchen gefeiert, indem ich die NS-Zeit der Diss so gut wie abschließen konnte. Alle Ausstellungen, die ich finden konnte, bis 1945 aufgelistet, alle Werke aufgezählt, die wichtigen beschrieben, Verkäufe notiert und vor allem Kontext gegeben. Wenn ein Herr Löbsack als Käufer im Werkverzeichnis auftaucht, sollte man erwähnen, wer das so war, wenn ein Bild „Hartmannswillerkopf“ heißt, auch, wenn ein Gemälde nach Litzmannstadt verkauft wird usw. Das hat alles wenig Spaß gemacht und ich war pissig auf Protzen, aber mei, das habe ich mir ja selbst ausgesucht.
Als ich dann am Mittwoch das Jahr 1945 vorerst abschließen konnte, war ich zunächst erleichtert, dass ich den Nazischeiß endlich hinter mir hatte, aber das dauerte nur wenige Stunden, denn dann war mir klar: Ich bin wirklich fast fertig. Die Zielgerade, die der Doktorvater und F. vor einigen Wochen schon sahen, sah ich plötzlich auch sehr deutlich vor mir. Das war einerseits toll und andererseits vermisse ich es jetzt schon, sie nicht mehr zu sehen.
Aber: Feste feiern, wie sie fallen, abends mit Mama Sekt aufgemacht und auf Meilensteine angestoßen. Dabei fragte ich sie etwas nach der jungen Bundesrepublik aus, denn ich hatte tagsüber natürlich gleich brav mit 1946 weitergemacht, bis 1956 muss ich noch. Sie ist Jahrgang 1940 und konnte sich daher nicht an Dinge wie die Währungreform erinnern, die mich gerade interessieren, weil das Vermögen der Protzens nach 1945 nicht unsubstanziell war, wenn man ihre Spruchkammerbögen als wahrheitsgemäße Quelle ansehen will. Deren Summen konnte ich mit dem Werkverzeichnis abgleichen, bei dem ich davon ausgehe, dass die Zahlen dort stimmen. Einige konnte ich anhand der Archivalien vom Haus der (Deutschen) Kunst bestätigen, daher gehe ich davon aus, dass auch der Rest meist passt.
Mama wusste noch, dass sie mal ein Sparbuch mit 500 D-Mark darauf gehabt hatte, was ihre Mutter mit „Davon kaufst du die Aussteuer“ kommentierte. Sie war mit 14 von der Schule abgegangen, weil meine Omi das Schulgeld für die höhere Schule nicht bezahlen konnte; eine Tante hätte gesagt, sie sei klug und könne gut rechnen: „Du gehst ins Büro.“ Also wurde sie Fremdsprachenkorrespondentin, absolvierte Wettbewerbe in Steno und Schreibmaschine und lernte als dann schon Vorstandssekretärin meinen Vater kennen, der Exportkaufmann war. (Sie verdiente damals mehr als er, was ich super fand.)
Die beiden verlobten sich 1965, und wie das so ist in Beziehungen, zofften sie sich irgendwann. Er ließ dann wohl den fiesen Satz fallen: „Vielleicht will ich dich ja gar nicht heiraten!“ Woraufhin Mütterchen, von der ich anscheinend mehr geerbt habe als ich dachte, zum Beispiel totale Übersprungshandlungen mit finanziellen Folgen, siehe die vier Absätze vor diesem, zu sich selbst sagte: „Wenn ich nicht heirate, brauche ich auch keine Aussteuer. Ich kauf mir lieber ein Auto.“
Da steht das gute Stück vor dem Haus, das die beiden gemeinsam bauten, inzwischen verheiratet (und ich war gerade unterwegs). Der Käfer endete Anfang der 1970er Jahre an einer Leitplanke in Hamburg-Maschen, meine Eltern gottlob nicht. Alle Autos danach wurden auf Papas Namen zugelassen. Aber das erste, das sie gemeinsam fuhren, gehörte Mama.
Gestern erzählte sie mir noch, dass sie in der Fahrschule nur mit zwei weiteren jungen Frauen saß, um sie herum 20 Männer. Auch bei der theoretischen Prüfung war das Verhältnis nicht gerade ausgewogen. Das war 1965 anscheinend etwas Besonders für eine 25-jährige Frau, ein Auto zu haben, und das auch noch selbstbezahlt.
Hier ist die Dame von damals. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir das Foto vor vorgestern aufgefallen wäre, was mich irre macht. Ich finde es nämlich ganz großartig, und wenn ich mir die Twitter-Likes anschaue, bin ich nicht alleine. Das Foto hatte 1965 eine Arbeitskollegin von Mama gemacht, Ruth Schäfer, Jahrgang 1925. „Wir hatten einen 36er-Film, den haben wir im Büro mal verknipst.“
Wenn das ein Ölgemälde wäre und Kleidung und Haarfrisur etwas anders, würde ich es gnadenlos in die Neue Sachlichkeit datieren und an der Wand haben wollen. Ich glaube, ich werde mir das als Poster anfertigen lassen.
Das Haus da oben hatte übrigens die tollste Eingangstür der Welt, hier die Ansicht von innen. Ich hatte ja ernsthaft über Glasbausteine als Diss-Thema nachgedacht, weil ich die so toll finde und es erschreckend wenig Literatur über sie gibt.
Und hier die zukünftige Frau Doktor beim Wiederaufbau einer gotischen Kathedrale.
PS: Die Fotos sehen so mies aus, weil sie nur mit dem iPhone abfotografiert wurden, ich hatte keine Lust, mich bei Elterns an den Scanner zu setzen.