Tagebuch Donnerstag, 19. März 2020 – Okay bis zum Nachmittag
Aufgewacht, geduscht, Flat White gemacht, gebloggt, aufs Sofa gesetzt mit dem festen Vorsatz, die Diss nicht anzufassen, denn das bringt ja eh nichts.
Nach 20 Minuten an den Rechner gegangen und die Diss geöffnet. Reverse psychology works, people.
Korrigiert, Textblöcke verschoben und einen total sinnvollen Vorschlag für alle Akademiker*innen entwickelt:
Irgendwann eine gute Idee für das Kapitel gehabt, mit dem ich die letzten Tage gehadert habe, weil mir Bibliotheken und die Milliarden von Infos fehlen, die ich in ihnen finde. Die Idee ansatzweise umgesetzt, dann Hunger bekommen und erstmal Mittag gemacht. Der Nudelteig von vorgestern ist jetzt aufgebraucht.
Apropos Bibliotheken: Einige von ihnen erleichtern gerade die Zugangsmöglichkeiten zu ihren digitalen Angeboten. Ich bekam auf Twitter die Münchner Stabi (Erleichterung bei der Ausweisbeantragung) und die Kölner Stadtbibliothek mit, aber vielleicht schaut ihr mal, wie es bei euren Haus- und Hofbibs aussieht, ich ahne, dass die auch gerade ihre Angebote niedrigschwelliger machen. Meine obskuren Bücher zu meinen obskuren Malern gibt es zwar dennoch nicht digital, aber ich finde es gut, dass Dinge sich anscheinend irre schnell ändern können, wenn es nur dringend genug ist. Wäre nett, wenn es für die weitere Digitalisierung nicht das nächste Virus bräuchte.
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Noch in meiner späten Mittagspause erreichte mich die Nachricht von F., dass die Passionsspiele in Oberammergau, die nur alle zehn Jahre stattfinden, auf 2022 verschoben wurden. Wir hatten Karten für Ende Mai gehabt und uns schon sehr gefreut (ich auch über einen bisher in diesem Blog einzigartigen Eintrag), aber nun gut. F. meinte vor ein paar Tagen noch so: „Die Spiele gibt’s doch nur, weil Gott das Dorf von der Pest verschont hat – da wird so ein blödes Virus ja wohl auch einen Bogen drumrum machen.“ Tja. Virus 1, Gott 0.
Ich rief pseudo-gut-gelaunt das Mütterlein an, das wir hatten mitnehmen wollen und meinte, dass wir dann eben erst 2022 gehen würden. Woraufhin sie den Spruch brachte, den alle älteren und alten Leute vermutlich irgendwann bringen: „Ach, wer weiß, ob ich dann noch lebe.“
Ich habe wie üblich die zuversichtlichen „Ihr seid doch unverwüstlich“-Sätze von mir gegeben und mit ihr geklönt. Dabei merkte ich, wie gut die Rede von Angela Merkel am Mittwochabend gewesen war. Seit Tagen versuchen meine Schwester und ich, das Mütterlein davon abzuhalten, einkaufen zu gehen. Das hat bisher auch geklappt, aber so richtig ernst genommen hat sie das Ganze nicht. Am Telefon meinte sie nun aber: „Frau Merkel hat ja auch gesagt, dass es jetzt ernst ist.“ Der hat sie nämlich geglaubt. #DankeMerkel
Das vertwitterte ich auch, woraufhin einige Reaktionen kamen; die hier fand ich besonders schön: „Bei meiner Mutter war es die Aussage der in London lebenden Nichte, dass die Queen auch alle Termine abgesagt hat.“ (Habe den Tweet komplett gecopypastet, dabei wurde aus dem Emoji am Tweetende dieser Text: „Gesicht mit Freudentränen“. Cool, wieder was gelernt.)
Zurück zu meiner Mutter: Die Pflegekräfte für meinen Vater kommen natürlich weiterhin ins Haus, die Physiotherapie aber nur noch auf Wunsch; die hat Mama erstmal abbestellt. Sie hält auch brav zu den Pflegekräften Abstand, und auch meine Schwester klingelt, geht dann ein paar Meter zurück, bis Mama die Tür öffnet und die Einkäufe von der Türschwelle nimmt. Typisch Mütterchen: „Ja, aber [Schwester] muss doch den ganzen Tag arbeiten, da muss sie doch nicht noch für mich einkaufen.“ Und vergisst natürlich völlig, dass sie seit Monaten rund um die Uhr für unseren Vater da ist. Eigentlich sollte ich in ein paar Wochen mal wieder für eine Zeitlang in den Norden kommen, aber das haben wir erstmal vorsichtig auf Eis gelegt und gucken, wie dann die Gegebenheiten so sind und ob ich mich in einen Zug setzen sollte. Meine ewige großkotzige Ansage, dass man in einer Großstadt kein Auto braucht, beißt mich gerade sehr in den Hintern.
Als wir das Gespräch beendet hatten, kam der Satz „Ach, wer weiß, ob ich dann noch lebe“ leider wieder hoch. Denn zum ersten Mal fühlt es sich so an, als ob an ihm etwas Wahres dran sein könnte. Mir ist schon klar, dass wir nicht ewig leben, auch meine Eltern nicht, obwohl ich es mir gar nicht anders vorstellen kann, dass sie irgendwann nicht mehr da sind, denn sie sind schließlich schon immer da gewesen. Aber jetzt, wo sich um uns herum etwas Unsichtbares, Bedrohliches an uns ranschleicht, fühlt es sich auf einmal real an. Damit war der Tag dann eher gelaufen.
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Immerhin konnte ich wieder Igor Levit zuhören und dann in die Kammerspiele gucken und abends theoretisch Saša Stanišić bei einer Lesung zuhören, wofür ich aber zu traurig war. Ich kriege gerade mehr Kultur mit als zu der Zeit, als ich noch vor die Tür hätte gehen können, um sie mir persönlich abzuholen. Ich vermisse allerdings schon die Museen, denn kein virtueller Rundgang kommt auch nur annähernd an das Erlebnis heran, vor einem Kunstwerk zu stehen.
Immerhin ein Erfolgserlebnis: Der vorgestern angesetzte Sauerteig ist ernsthaft von Nichts auf Riesig angewachsen und sogar aus seinem Glas geklettert und hat meine FCA-Fleecedecke eingesaut, in die ich ihn eingewickelt hatte. Aber da ich die Decke gerade eh nicht brauche (kein Fußball, kein Stadion), ist das egal. Ich habe einen Sauerteigansatz! OMG!