Tagebuch Samstag, 18. April 2020 – Fast normal
Morgens um 8.45 Uhr zur Packstation geradelt, wo ein winziges Päckchen mit Nähgarn und Stecknadeln auf mich wartete. Normalerweise würde ich diese Strecke zu Fuß erledigen, aber ich fühle mich auf dem Rad gerade wohler. Danach noch kurz zum Karstadt geradelt, der um 9 öffnete, wo ich in der Lebensmittelabteilung mein Lieblingsbrot erstand; ich wechsele mich gern ab, mal backe ich, mal lasse ich backen. Im Laden selbst sah ich geschätzt die Hälfte der Menschen mit Mundschutz. An der Fischtheke, wegen derer ich überhaupt in den Laden wollte, war ungefähr ein halber Meter vor der Auslage abgesperrt, so dass man nicht ganz so dicht an den Menschen dahinter herankam. Für mein Zanderpäckchen musste ich mich etwas lang machen.
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Ich radelte keinen Umweg, weil ich den Rucksack teilweise mit Zeug gefüllt hatte, das in einen Kühlschrank wollte (Zander zum Beispiel). Zuhause erprobte ich ein neues Rezept und war damit sehr zufrieden. Keine Fotos gemacht, wie so ne Anfängerin.
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Dann wollte ich eigentlich nur mal kurz an den Rechner. Immerhin in netter Begleitung.
Freitag hatte ich per Twitter von der herrlichen Datenbank Fold3.com erfahren, und durch einen Testzugang für Ancestry.de, der mir netterweise für lau vom Unternehmen zur Verfügung gestellt wurde, konnte ich darauf zugreifen. Ich kann immer noch nicht verstehen, wieso ich Fold3 nicht kannte – dort liegen nämlich auch die Unterlagen der sogenannten „Monuments Men“, also der Abteilung „Monuments, Fine Arts and Archives Section“ der US-Streitkräfte. Genau diese Abteilung war dafür verantwortlich, die ganzen geraubten Kunstschätze, aber auch den ganzen Nazikram (aka Werke von Protzen), der in Bergwerken und sonstwo eingelagert war, wieder zu verteilen.
Von den Werken, die mich interessieren, kamen einige am Central Collection Point Munich an. Die Datenbank, in der man die dort angelegten Property Cards einsehen kann, gehört zum Deutschen Historischen Museum in Berlin und ist seit Wochen nicht erreichbar. Damit konnte ich natürlich nicht rechnen, als ich mir die chronologische Herangehensweise an die ganzen Bilder überlegte und so den Datenbankabruf immer weiter hinauszögerte. Seit ein paar Wochen würde ich jetzt echt gerne die sogenannten Mü-Nummern nachgucken – kann ich aber nicht. Bzw. konnte ich nicht, denn die Property Cards sind auch über Fold3 abrufbar, ha!
Ich fand aber nicht nur die Mü-Nummern der von mir gesuchten Werke, sondern auch noch diversen Schriftverkehr, in denen Potzens Name auftauchte. Durch den konnte ich belegen, dass alle Werke, die Herr Protzen so stolz mit „angekauft vom Führer“ oder auch nur schnöde mit „Reichskanzlei“ im Verzeichnis annotierte, nie nach Berlin kamen, sondern nach den jeweiligen Großen Deutschen Kunstausstellungen im Depot des Hauses der Kunst rumstanden, bis sie dann ab 1943 nach Altaussee oder Kelheim kamen. Letzteres war mir neu, da habe ich noch keine Ahnung, wo in Kelheim was gesammelt wurde. Im Depotbuch des Hauses der Kunst waren nur drei Werke als Abgang verzeichnet, aber jetzt kann ich alle nachweisen, die dort von Protzen verkauft und irgendwann weitergereicht wurden. Aber eben nie in die Reichskanzlei, worüber ich dann doch sehr grinsen musste.
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Zwischendurch musste ich mal was kochen. Am Freitag hatte ich bei Masterchef Australia gesehen, wie der Trick mit den Kartoffelschuppen auf einem Stück Fisch funktioniert: den Fisch mit leicht aufgeschlagenem Eiweiß bestreichen, dann hält das Zeug nämlich. Den Fisch in der Hand halten, eine heiße, logischerweise nicht geölte Pfanne vorsichtig drüberstülpen, so dass die Schuppen Pfannenkontakt haben, Fisch andrücken und mit Schwung umdrehen. Öl rein, lustige Kräuter rein, gerne auch noch einen Berg Butter und dann irgendwann vorsichtig wenden. Bis auf eine Schuppe hat das auch hervorragend geklappt. Yay! Die kleinen Erfolgserlebnisse.
Allerdings zu viel Paprika.
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Der Tag gestern hat sich fast normal angefühlt. Halbwegs entspannt einkaufen gewesen, lustige Dinge gekocht, gut gearbeitet, wenn auch deutlich länger als geplant. Ich habe mich wie schon im letzten Jahr so sehr darüber gefreut, mir frische Kräuter vom Balkon holen zu können und wie herrlich nach deren Benutzung die Küche duftet. Der Wein zum Fisch war prima, ich habe Wäsche auf dem Balkon trocknen können und sie rechtzeitig vor dem kurzen Regenguss wieder reingeholt, es hat geregnet, yay, auch danach duftet es immer so gut und ich mag das Geräusch von Regen so gern. Versonnen auf dem Sofa gehockt und nach draußen geguckt.
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Als Tagesabschluss wollte ich noch eine letzte Runde in der Datenbank drehen, mit den Protzen-Einträgen war ich durch, ich wühlte einfach nur noch so, und dann stolperte ich über eine der Transportlisten aus Aussee, die ich nur überflog, bevor ich den Rechner frustriert und wütend zuklappte. 90 Trucks. 3300 Gemälde. Aus französischem Besitz, aus niederländischem, aus belgischem. Ziel Jugoslawien. Ziel München. 40 Koffer. 3 Tische. 2 Sitzkissen, Besitzer Adolf Hitler.
Ich weiß das ja alles. Ich weiß, dass die Nazis den größten Kunstraub der Geschichte durchgeführt haben und das in schöner deutscher Gründlichkeit, ich kenne die Fotos aus Aussee und dem CCP, die reihenweise Gemälde hintereinander und Lastwagen voller Skulpturen, kenn ich doch, weiß ich doch. Und trotzdem reicht manchmal eine blöde Liste, um mir das Ausmaß in konzentrierter Form ganz kurz vor Augen zu führen. Und dann bin ich wieder pissig, dass ich 300 Seiten über einen Täter/Mitläufer geschrieben habe anstatt was Anständiges zu machen. Ja, ich weiß, dass wir auch die Gegenseite brauchen, um den Raubzug aufarbeiten zu können. Trotzdem.
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Schokolade, Community, Hefeteig angesetzt. Und mit F. geredet, das hilft ja auch immer.