Tagebuch Mittwoch, 22. April 2020 – Muffigkeit rausradeln

Ausgeschlafen, traurig gewesen, Kaffee getrunken, die neue Folge Masterchef Australia gesehen, damit der Tag wenigstens halbwegs gut anfängt. Danach so genervt von der eigenen Muffigkeit gewesen, um nicht an den Schreibtisch zu gehen, sondern stattdessen in den Fahrradkeller. Mit dem Ziel Englischer Garten losgefahren, ohne Plan, ohne Zeitvorgabe, das einzige, was ich wollte, war, mich ein bisschen zu bewegen. Das tat ich dann auch deutlich länger als gedacht: Da ich mich im Englischen Garten grundsätzlich verfahre, weil ich nie weiß, wo ich eigentlich hinwill und gerne auch mal aus dem Garten wieder herausradele und dann den Weg wieder zurückfinden muss, sind es laut Google Maps und der inneren Maßeinheit „Pi mal Daumen“ so um die 15 bis 17 Kilometer gewesen, die ich gefahren bin. Das hat mich doch sehr gefreut, dass die Kondition auch nach fünf Wochen Rumsitzen noch für mehr als „bis zum ZI und zurück“ da ist. Ja, gut, die Knie taten danach etwas weh, aber meine Güte, ich bin alt und untrainiert.

Das Foto habe ich von der St.-Emmeram-Brücke aus gemacht.

Wieder zuhause habe ich die Diss weiterhin ignoriert und Dinge getan, von denen ich vor ein paar Wochen noch nicht gedacht hätte, sie zu tun. Bei meinen zwei naiv handgenähten Mundschutzen aus einer Stoffserviette, die ich nicht mehr mochte, hatte ich den unteren Saum offen gelassen, um eventuell noch ein Vlies einschieben zu können. Inzwischen war ich öfter mit den Masken draußen und habe eine von ihnen auch gestern auf der ganzen Fahrt getragen, was vermutlich nicht nötig gewesen wäre. Aber der südliche Teil vom Englischen Garten war doch recht bevölkert, da war ich ganz froh, einen Mundschutz zu tragen. Alleine neben der Isar entlangradelnd war er vermutlich egal. Was ich sagen wollte: Inzwischen weiß ich, dass er sehr tragefreundlich ist und ich auch gut durch ihn atmen kann, daher möchte ich kein Vlies einlegen, um mir das nicht zu erschweren. Also tat ich die eben angesprochenen Dinge bzw. eigentlich nur ein Ding: Ich versäumte den Mundschutz mal anständig. So anständig wie das per Hand halt geht, wenn man das noch nie gemacht hat. Sobald mein schöner blauer Stoff da ist, werde ich den Mundschutz auch brav umdrehen, so dass die doofen Nähte innenliegen, bevor ich die Bänder randengele. Das sieht dann natürlich gleich irre professionell aus. Hoffe ich.

Orecchiette mit Bärlauchpesto und viel Wasser, weil ich keine Coke Zero mehr im Haus hatte, aber auch nicht einkaufen gehen wollte. Über einen Sodastream nachgedacht und es wieder verworfen. Und endlich mal wieder ein bisschen in einem Roman gelesen anstatt ständig in Sachbüchern rumzuhängen. Besserer Tag, aber da ist noch Luft nach oben.

„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder gar unser ganzes Leben.“

Anna Seghers: Transit, Berlin 2019, S. 41. (Erstmals erschienen 1947.)

Folgeempfehlung: Die Kunsthistorikerin und Sachverständige Diana Lamprecht nutzt für ihre lehrreichen Insta-Posts frei verfügbare Bilder, hauptsächlich aus dem Metropolitan. Immer spannend. Momentan sind Eierbecher ein Thema, und gestern betrachtete ich fasziniert ein Reiseset mit Besteck aus Augsburger Silber und Griffen aus Meißener Porzellan.

Der Onkel von Herrn Heinser instagrammt gerade Fotos seines Vaters aus dem Paris der 1960er Jahre. Das weiß ich durch diesen Newsletter.