Tagebuch Montag, 11. Mai 2020 – Sinnkrise
Dusche, Flat White, Masterchef Australia.
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Am Schreibtisch erstmal eine Dissertation einer Kommilitonin gelesen, in der zwei Ausstellungen vorkamen, mit denen ich mich auch beschäftigt habe. Die Diss hatte einen anderen Forschungsschwerpunkt, aber natürlich hat sie mich trotzdem in eine kleine Sinnkrise geschmissen. Ich habe im Bundesarchiv anscheinend ein oder zwei Akten übersehen, die vielleicht interessant gewesen wären, aber jetzt komme ich gerade nicht hin, um sie mir auszuheben zu lassen. Und die Sprache der Diss klang für mich so viel besser als meine eigene. Immerhin vom zweiten Punkt konnte ich mich selbst entkriseln, indem ich mir stundenlang vorsagte: „In jedem Feedback auf jede wissenschaftliche Arbeit, die du in den letzten acht Jahren eingereicht hast, wurde deine Sprache gelobt. Scheint okay zu sein, verständlich zu schreiben.“
Aus dem zweiten Punkt konnte mich F. abends per Pep-Talk-DM holen: „Research never ends, it is never finished.“ Nicht alles, was irgendwo in Archiven rumliegt, muss in eine Arbeit. Ich habe genug, um meinen Punkt zu machen, und das weiß ich auch. Und ich weiß auch, dass ich Dinge gefunden habe, die in der von mir gelesenen Diss als „habe ich nicht finden können“ bezeichnet wurden (akademischer formuliert).
Beim Rausschmeißer von F. musste ich sehr lachen, weil ich gerne Witze darüber mache, dass ich eigentlich bei allen Dingen, die ich in der Diss anreiße, einen Aufsatz vom Doktorvater hätte zitieren können, weil der halt alles weiß und überall war: „Forschung ergänzt sich auf einem Gebiet. Wenn eine Person alles alleine rausfinden könnte, hätte euch [Doktorvater] nichts mehr übrig gelassen.“
Innere Danksagung wird immer länger.
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Ansonsten emsig die Kapitel 1940 bis 1944 zum zweiten Mal korrigiert und im Abbildungsverzeichnis 100 Bilder ergänzt (grob geschätzt). Je weiter ich nach hinten in die Arbeit komme, desto besser gefällt sie mir. Ich ahne, dass ich im vorderen Teil nochmal den Rotstift ansetzen muss, wobei das Gefühl auch an der Sinnkrise gelegen haben könnte. Bin ansonsten doch recht zufrieden mit dem Brocken.
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Zu essen gab es gestern in Etappen Püree aus weißen Bohnen und Karotten, die ich mit einem Berg Harissa und Knoblauch im Ofen weichgeschmort hatte. Dann wurde alles mit ein bisschen Minze, Olivenöl und Zitronensaft püriert. Harissa war super, vom Rest habe ich quasi nichts geschmeckt außer ab und zu ein bisschen frische Zitrone. Fürs nächste Mal merken: von allem mehr reinhauen oder gleich weglassen. Und immer mehr Salz als angegeben. Mehr mehr.
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Igor Levit Is Like No Other Pianist
Wer den langen ZEIT-Podcast gehört hat, für den ist wenig neues Biografisches über Igor Levit dabei, aber für die Beschreibungen der musikalischen Entwicklung lohnt sich dieses Porträt aus dem New Yorker sehr. Ich fand an den Hauskonzerten sehr schön, dass Levit ein paar Sätze zur Einführung sprach, was meine innere musikalische Bibliothek sehr erweitern konnte. Alleine für The People United Will Never Be Defeated werde ich ihm noch länger dankbar sein.
Was ich auch durch die Hauskonzerte gelernt habe: dass ich mit Soloklavier was anfangen kann. Eigentlich bin ich mehr der Mensch für das 80-köpfige Wagner-Orchester, je mehr Klangfarbe, desto besser. Aber so auf Melodie und Begleitung und dem Verwischen von beiden zurückgeworfen zu werden wie es eben nur ein Soloinstrument wie das Klavier kann, war für mich sehr bereichernd. Daher auch hier: Danke.
„One day, Levit sent me a text saying, “Maybe for the first time do I understand what it means to speak of music as something life-keeping. It really keeps me alive. . . . I don’t care if it’s wrong or right, whatever B.S. that means, just as long as I can actually press down the black and white keys. I’ve never, never been freer than now. Never. And I am in tears half the day. Very, very dark. And yet. The existential must of music-making really becomes bigger and bigger by the minute.”
Concert pianists are often stereotyped as remote souls, apt to lose themselves in the palaces of sound they summon at the keyboard. Levit is emphatically not a loner. He has a global network of friends, and transmits countless e-mails, texts, emojis, and gifs every day. He is a cultural omnivore who is as likely to quote from Kendrick Lamar or “Simpsons” episodes as from Kafka or James Baldwin. Outfitted in a hoodie, a T-shirt, and jeans, he blends in easily with other guys on the streets of Berlin. His moderately hip image arouses suspicion in conservative corners of the classical-music world. “Just shut up and play,” he has heard people say, in several languages. From a more radical perch, the Berlin-based online magazine van has suggested that Levit is excessively self-dramatizing: “In the race for attention, Levit is a bit like Usain Bolt: he always seems effortlessly ahead.” […]
Levit introduced himself to the international public in an ostensibly conventional manner, with a recording of Beethoven. The Sony Classical label signed him in 2012, after he had attracted notice as a member of the BBC’s young-artist program. His first Sony project was nonetheless bold in concept, even brazen: where other début pianists might have stuck to the “Moonlight,” the “Appassionata,” or the “Waldstein,” Levit offered a two-disk set of Beethoven’s final five piano sonatas, including the titanic “Hammerklavier.”
To some, the gesture smacked of arrogance. He told me, “I know there is this attitude that you are supposed to wait until you are sixty-five and have seen life and the world and suffering before you approach late Beethoven. But I know thirteen-year-olds who know a level of suffering that these full-of-themselves, elegant mid-sixties artists have absolutely no fucking idea about. Give me a break! Anyway, that’s where I started, with late Beethoven. Matti really helped give me that attitude. He would say, ‘Just go do it. Just be a pianist. I will help you not to be an idiot.’”