Was schön war, Dienstag, 2. Juni 2020 – Frisch gezapftes Bier
Lange vor dem Weckerklingeln aufgewacht und die nächtliche Timeline nachgelesen. Dabei über ein Foto von Arlene Mejorado auf dem Instagram-Account der US-Vogue gestolpert:
Ich kann mich bis jetzt nicht entscheiden, ob ich das Bild – von diesem Account – großartig oder fürchterlich finde. Das Foto an sich beschäftigt mich und ich bin immer noch dabei, meine Gedanken zu sortieren, das wird also jetzt keine gründliche Bildanalyse.
Die Rückansicht der Protestierenden ist spannend, man erkennt keine Gesichter, sie müssten eine Masse sein, aber ein Mensch sticht heraus. Die Pose mit der erhobenen Faust assoziiert sofort die Black-Power-Bewegung, der nackte Oberkörper mit der Aufschrift erinnerte mich schmerzlich an Fotos von Sklaven, auf deren Rücken Narben von Peitschenhieben zu sehen sind. Hier ist die Rückenhaut vermutlich von eher freundlich gesinnten Menschen mit etwas versehen worden, die glatte, unzerstörte Haut mit dem Slogan darauf hat also eine ganz andere Wirkung als die Sklavenfotos – Stichwort „empowerment“ –, wobei auch letztere, siehe Link, als Botschaft dienten. Trotz der historischen Assoziationen ist das Bild eindeutig aus der Jetztzeit: Mit dem erhobenen Handy wird gefilmt oder instagrammt, an den Ohren des zentralen Mannes sind die Bänder eines Mundschutzes zu erkennen.
Was mich seit gestern fragend auf das Bild starren lässt, ist das Outfit des Mannes: Wenn er nicht gerade auf einer Protestkundgebung wäre, könnte er auch in einem Video einer Klamottenfirma agieren oder für Accessoires wie Rucksäcke werben. Deswegen weiß ich immer noch nicht, ob ich diesen Post großartig finde – weil total on brand – oder fürchterlich – weil total on brand.
Aber immerhin konnte mein Kopf mal wieder über etwas anderes nachdenken als über Autobahnen.
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Den Vormittag verbrachte ich im Staatsarchiv und lernte, ohne es zu wollen, dass der Verband der Mineralwasserfabrikanten es 1944 total doof fand, dass die Staatsbrauerei Weihenstephan jetzt auch noch Blubber macht, wo kommen wir denn da hin. „Für die Zeit nach dem Krieg muß jedoch darauf bestanden werden, daß die Brauerei den Handel mit Limonaden einstellt.“
Und ich fand auch ein paar schöne Dinge zu Herrn Protzen und zu seinen Kollegen, von denen viele noch meinten, die zeitgenössische Kunst bestände aus „extremen Experimenten“ oder sei „abnorm“. Einer tat sich 1955 mit einem ganz besonders beknackten Zitat hervor: In einem Schreiben, in dem der bayerische Staat um finanzielle Unterstützung gebeten wird, erwähnte Franz Siegele, dass man sich die Picasso-Ausstellung im Haus der Kunst „unbedingt“ ansehen werde – „nicht der Qualität wegen sondern um zu sehen, was hinter dem Rummel um diesen Maler steckt.“ Auf der Schau hing übrigens auch die Guernica, wenn wir schon von abnorm reden, gell, deutsche Luftwaffe?
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Nach Hause geradelt, Croissants zum Mittagessen, danach gut gelaunt am Schreibtisch weitergearbeitet.
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Abends hatten F. und ich ein Date, so draußen, unter Menschen, IN EINEM LOKAL! Das hatten wir seit März nicht mehr gemacht und deswegen hielten hier gleich zwei Leute das erste frisch gezapfte Bier seit Monaten bildlich fest. Es war herrlich.
Wir durften nur zwei Stunden bleiben, aber das war in Ordnung. Außerdem trafen wir den charmanten @manumelm, der im gleichen Lokal einen Tisch reserviert hatte. Dieses Dorf! Ich war für zwei Sekunden pissig, dass der Herr auf dem Bürgersteig stehen blieb anstatt an den Tisch zu kommen, aber dann fiel es mir noch ein: Wir müssen ja Abstand halten. Ich vergesse das so gerne, weil ich so gut wie nie unter Menschen komme außer im Supermarkt. Ich bleibe weiterhin so gut es geht zuhause und gehe fast ausschließlich in Gebäude, in denen Menschen die Klappe halten und möglichst weit von mir entfernt an Einzeltischen sitzen und arbeiten.
Nach Schnitzel und Bier (ein Fest!) saßen F. und ich noch Stunden auf meinem Balkon und freuten uns über Schnitzel, Bier, Balkon, Zufallstreffen, nette Gespräche und dass es sich mal für zwei Stunden normal angefühlt hat. Bis auf die maskierte Kellnerin und dass man Namen und Telefonnummer am Tisch ausfüllen musste. Und weil wir den Tisch schon um 18 Uhr reserviert hatten, waren wir sogar noch vor Mitternacht im Bett, aber es fühlte sich an, als hätten wir die halbe Nacht durchgequatscht.
Guter Tag.