Tagebuch Dienstag, 14. Juli 2020 – Dinge, die ich gestern gelernt habe, als das Mütterchen und ich uns nach Feierabend ab 21 Uhr einen kleinen Rosésekt gönnten (oder zwei)

Auf dem Grundstück meiner Eltern blüht eine Rose, die ein Ableger einer der ersten Blumensträuße war, die mir mein erster Freund so circa 1987 geschenkt hat. Muss ich dem Herrn noch persönlich erzählen, er liest mein Blog nur sporadisch, unglaublich.

Dann sprachen wir lange über die Kriegs- und Nachkriegszeit.

Ein großer Teil eines Flüchtlingstrecks aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (oder wie es die Dorfchronik von 2001 nennt: „Deutsche Ostgebiete“, ähem) kam Ende März 1945 in Bissendorf an, meinem Heimatdörfchen. Damals hatte Bissendorf, soweit ich die wenigen mir hier zur Verfügung stehenden Quellen interpretiere, gut 1000 Einwohner. Der Treck stammte aus der Gemeinde Groß Rohdau (Rodowo), die 1944 ebenfalls um die 1000 Einwohner hatte. Das gesamte Dorf machte sich im Januar 1945 mit einem Treck aus 60 Pferdewagen auf den Weg in den Westen. In Mecklenburg trennte sich der Treck; einige fuhren nach Bremen oder Schleswig-Holstein, andere zogen weiter in Richtung Niedersachsen. In der Chronik ist nicht verzeichnet, wieviele Menschen genau nach Bissendorf kamen, es werden 14 Familien namentlich erwähnt.

Die Chronik listet außerdem 133 Familien auf, die angeblich bis 1948 aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Bissendorf kamen, darunter auch die meiner Mutter, die mit ihrer Mutter, deren Schwester und deren zwei Kindern aus Ostpreußen kamen, beide Ehemänner waren gefallen. (Die Familien meiner Mutter kamen erst Anfang der 1950er-Jahre.) Ich war erstaunt darüber, wieviele der Namen ich aus meiner Kindheit kannte. Die Vorfahren unserer Nachbarn stammen aus Litauen, die unseres Dorfschusters, von dem ich jedes Paar Schuhe bekam, bis ich ungefähr 15 war, aus dem eben erwähnten Rohdau in Westpreußen. Die Eltern einer langjährigen Freundin meiner Mutter waren ebenfalls auf diesem Treck. Weitere Namen, die ich kannte, hatten Vorfahren in Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien.

Meine Mutter erzählte, dass sie bis 1947 in der Nähe von Lapkeim (Łapkiejmy) lebten, nachdem sie aus Bartenstein (Bartoszyce) geflüchtet waren. Danach kamen sie zunächst in ein Flüchtlingslager in Brandenburg, in dem sie aber nur wenige Wochen blieben. „Am 4.11.1945 legte die Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler einen ersten Arbeitsbericht vor. Demnach waren in der Sowjetischen Besatzungszone 568 Lager für die Aufnahme und Verteilung der Vertriebenen und Heimkehrer eingerichtet worden, davon in der Provinz Mark Brandenburg allein 63 Lager. Das Gesamtfassungsvermögen aller Lager betrug ca. 484.000 Personen.“ (S. 20) „Heimkehrer“ ist hier ein euphemistischer Begriff, der laut Verordnung der sowjetischen Militäradministration in der SBZ verwendet werden sollte und ehemalige Kriegsgefangene meinte. (S. 4) Meine Mutter erinnert sich an kaum noch an das Lager, nur daran, dass sie „weißen Puder“ in die Haare bekamen, vermutlich ein Entlausungsmittel. (Zitate aus Sven Olaf Oehlsen: Vertriebenenlager in Brandenburg 1945–1953, Potsdam 2006, hier als PDF.)

Ab Anfang der 1950er-Jahre lebten meine Mutter, ihre Mutter mit Schwester und Kindern gemeinsam in einem einzigen Zimmer einer Familie hier in Bissendorf, bis 1966 mit Plumpsklo auf dem Hof. Als ich bei der Erzählung meinen Mund (hinter der Maske) verzog, meinte meine Mutter nur sinngemäß: „Omi und Tante Erna meinten immer nur: ‚Es ist Frieden und wir haben ein Dach über dem Kopf.‘ Daher empfand auch ich die Situation nicht als so belastend, wie sie jetzt vielleicht klingt.“

Das rückte dann ein paar FirstWorldProblems bei mir im Kopf wieder gerade.

Meine Mutter ging keine sieben Jahre zur Schule. Als sie 6 war, lebte sie noch in Polen und wurde nicht eingeschult, sie kam erst mit 7 in Brandenburg in die Schule und erinnert sich noch an eine russische Wendung, von der sie aber nicht mehr weiß, was sie bedeutet, aber sie mochte die Schrift so gerne. In Niedersachsen beendete sie die Volksschule, aber für eine weiterführende Schule hatte die Familie kein Geld. Sie begann mit 14 eine Lehre, um „ins Büro zu gehen“, und lernte schließlich noch Fremdsprachenkorrespondentin. Als sie meinen Vater Anfang der 1960er-Jahre kennenlernte, sagte sie, ihr gestriges Zitat wörtlich: „Ich kann mir keinen festen Freund leisten, ich möchte beruflich vorankommen.“ Ich guckte verständnislos, woraufhin sie meinte: „Das war vor der Pille.“ Ach ja. Also suchte sich Väterchen einen Job im Schwarzwald, damit die beiden Frischverliebten sich nicht so oft sehen konnten. (Ich grinse gerade beim Tippen und finde meine Mutter toll.) Zwischen 1962 (?) und Anfang 1967 arbeitete Papa dann in Hamburg, im Juli 1966 haben beide geheiratet.

1967 zogen beide zusammen – in ein Zimmer im Haus der Eltern von Papa. Mama wollte danach für ihre Mutter ein Foto als Abschiedsgeschenk machen lassen. Dafür schritt sie, ihrer Erzählung nach, diverse Schaufenster von Fotografen in Hannover ab und entschied sich für einen Herrn Julius, der damals, Mamas Worte, „die Operndiven“ fotografierte und deren Bilder ausstellte. Sie übte tagelang eindrucksvolle Posen vor dem Spiegel und war ziemlich überrascht, dass das beim Fotografen nicht so gut ankam. Der meinte aber: „Sie sind eine optimistische Persönlichkeit, und solchen Menschen wollen wir in die Augen schauen. Gucken Sie mich mal an!“

Etwas später wurde auch mein Vater vom selben Fotograf abgelichtet, beide Bilder sind aus dem November 1968.

Der Fotograf könnte Kurt Julius gewesen sein, worüber ich seit gestern abend auch sehr breit grinse. Ich muss mal ins Archiv des Theatermuseums Hannover, glaube ich.