Tagebuch Donnerstag/Freitag, 10./11. Dezember 2020 – Lesetage

Ich erwähne mal wieder Das Buch Alice, das ich jetzt fast durchgelesen habe. Es irritiert mich immer noch, weil es ständig hin- und herschwankt zwischen wissenschaftlicher Aufarbeitung und populärwissenschaftlicher Schreibe, ich habe immer noch kein System für die Endnoten erkannt (wann wird eine Quelle angegeben, wann nicht), aber inzwischen kann ich damit leben, denn ein Kapitel hat mir gereicht, um das Buch jetzt doch großflächig zu empfehlen. Das Kapitel „Bücherdiebe“ beginnt auf Seite 150 und hier geht es endlich um den Punkt, den das Buch machen möchte bzw. der im Untertitel steht: „Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten.“

Ich zitiere im Folgenden sehr ausführlich, weil ich das korrekt wiedergeben möchte.

„Seit 1901 beliefen sich in Deutschland die Fristen für den Urheberschutz auf 30 Jahre. Ein Jahr nach der Machtübernahme ließ Hitler diese Fristen auf 50 Jahre erhöhen. Das neue Urheberrechtsgesetz, das noch bis 1966 galt, machte zwischen ‚arischen‘ und ‚nichtarischen‘ Autoren keinen Unterschied. Theoretisch hätte der Schutz des Urheberrechts also auch einer jüdischen Sachbuchautorin wie Alice zugutekommen können. Ihr Buch wurde 1935, ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes, in München vom Ernst Reinhardt Verlag publiziert. Trotzdem würde sie nach der Vorstellung der Nationalsozialisten nie von dem Gesetz profitieren, denn für diese waren Autoren ‚Treuhänder des Werks für die Volksgemeinschaft‘. Da Juden aus rassischen Gründen nicht Teil der ‚Volksgemeinschaft‘ sein durften, konnten ihre Werke keinen Wert haben und keinen rechtlichen Schutz genießen.“ (S. 151)

Ich meine, „Machtübergabe“ statt „Machtübernahme“ ist derzeit der gebräuchlichste Begriff, aber das nur nebenbei. In diesem Absatz begann bei mir die große Aufmerksamkeit, weil ich mich wieder an die vielen irrsinnigen Gesetze erinnerte, die ich im Studium kennengelernt hatte. Zum Beispiel die Legalisierung der Ausplünderung der jüdischen Menschen, falls diese in die Konzentrationslager im Osten deportiert wurden: Auschwitz galt zwar als erobert, aber nicht als reichsdeutsch, weswegen die Juden deutschen Boden verlassen hatten, weswegen ihr Hab und Gut im „Altreich“ nun eben diesem zufiel. (Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz, 25.11.1941)

Die Ausplünderung betraf nicht nur materiellen, sondern auch geistigen Besitz wie eben Urheberrechte.

„Bis heute ist die ‚Arisierung‘ [Anführungszeichen von mir] von Büchern nicht untersucht worden. Es gibt nicht einmal eine einheitliche Bezeichnung für den Vorgang. Der Begriff ‚arisierte Bücher‘ wird bisher für ein anderes Verbrechen der Nationalsozialisten benutzt – man beschreibt damit die Plünderung jüdischer Bibliotheken. [1] Mit dem – sehr viel schwerer wiegenden – geistigen Diebstahl von Leistungen jüdischer Autoren und Herausgeber hat sich niemand beschäftigt. Es existiert noch keine Statistik über die ungefähre Zahl der Betroffenen. Das Thema kommt in der Forschung einfach nicht vor.“ (S. 151/152)

Auf den folgenden Seiten bespricht die Autorin die unterschiedlichen Möglichkeiten der Verlage, sich dem NS-System anzudienen, irgendwie um es herumzulavieren oder sich oppositionell zu positionieren, was eher selten vorkam. Genau diese Möglichkeiten sind mir auch in der Aufarbeitung von Teilbereichen des Betriebssystems Kunst im NS schon aufgefallen: Die Reichskulturkammer hatte zwar auf dem Papier große Macht, aber auch hier stritten sich verschiedene Unterorganisationen um Zuständigkeiten, weswegen es durchaus möglich war, durch die Maschen des Systems zu schlüpfen. Bei meiner Bearbeitung des Künstlers Leo von Welden stellte ich die These auf, dass dessen RKK-Mitgliedsnummer, die sich auf Bildrückseiten und Anmeldeformularen für Ausstellungen fand, schlicht ausgedacht war, weil er als Nicht-Deutscher bzw. Staatenloser gar nicht Mitglied dieser Kammer werden konnte. Im Zuge meiner Dissertation stieß ich im Hauptstaatsarchiv München in den Unterlagen zur Großen Deutschen Kunstausstellung 1944 auf diverse Anmeldeformulare, auf denen keine Mitgliedschaft angegeben wurde sowie Bitten um Ausnahmeregelungen, deren Gewährung teilweise als Telegramm oder Brief erhalten sind (auf der GDK durften nur Kammermitglieder ausstellen). Es gab also anscheinend Künstler und Künstlerinnen, die es bis 1944 nicht für nötig gehalten hatten, in die RKK einzutreten.

Urbach zitiert diverse Studien und Monografien, die ich alle auf meine „Lese ich irgendwann“-Liste gepackt habe, zum Beispiel Verlage im Dritten Reich von Klaus G. Saur (Hrsg., Frankfurt am Main 2013) oder Walter de Gruyter. Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus von Angelika Königseder, Tübingen 2016. Schon etwas älter, aber vermutlich ebenso wichtig: Heinz Sarkowskis Der Springer-Verlag: Stationen seiner Geschichte Teil 1: 1842–1945, Berlin 1992. (Julius Springer, nicht Axel.) Oder auch Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, München 1993.

Urbach gibt anschließend ihre erfolglose Bitte um Einblick in die Verlagunterlagen wider, das Buch ihrer Großmutter betreffend, das 1938 einen neuen Verfassernamen bekam und teilweise umgeschrieben wurde. Der Verlag behauptete, keine Akten mehr über diesen Vorgang und vor allem aus dieser Zeit zu besitzen. Urbach: „Um das einordnen zu können, muss man wissen, dass der Ernst Reinhardt Verlag 1974 und 1999 zwei Festschriften veröffentlichte, die auf Archivmaterial aus der Vorkriegs- und Kriegszeit beruhten.“ (S. 154)

Im Folgenden beschreibt Urbach, wie andere Verlage mit Anfragen umgingen und skizziert weitere „Arisierungen“ von jüdischem geistigen Besitz nach. Dieses Kapitel versöhnt mich sehr mit dem Rest des Buchs, das für meinen Geschmack zu oft und zu weit vom eigentlichen Kern wegführt. Ich mochte die nachvollziehbare Aufarbeitung des Vorgangs und seine historische und politische Einordnung sehr, denn es hat mein Wissen über die Kulturpolitik des NS sehr erweitert. Alleine dass es zu diesem Thema noch überhaupt keinen Forschungsstand gibt, war für mich sehr aufschlussreich.

[1] Jahn, Thomas: „Suche nach ‚arisierten‘ Büchern in den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek. Forschungsstand – Methode – Ergebnisse“, in: AKMB-news 11 (2005), Nr. 2, S. 7–12.