Tagebuch Freitag, 26. Februar 2021 – Tergit ausgelesen

Den Wocheneinkauf erledigt, Bücher in die UB zurückgebracht, die erste Kickboxing-Einheit erledigt, die im Trainingsplan meines lustigen Online-Sportkurses dran kommt. Ich hatte das Programm bereits einmal durchgehüpft, daher wusste ich, was noch kommt, und das tat gestern sehr gut. Besser Luftboxen als gar kein Boxen. (War nötig.)

F. brachte Schnitzel aus der Stammkneipe zur Date Night, zum Nachtisch Weißbier-Tiramisu. Wir waren beide drömelig und erschöpft von der Woche bzw. ich eher jetzt schon von der kommenden, daher tranken wir nicht alle Bierchen, die ich kaltgestellt hatte, sondern gingen recht früh ins Bett.

Ich las noch schnell Gabriele Tergits Effingers aus und empfehle das zum wiederholten Male. Ich mochte diese schnelle, klare Sprache sehr gerne, die vielen hundert kleinen Kapitelchen anstatt der fünf großen, den ständigen Perspektivwechsel. Das Buch lässt sich anfangs sehr viel Zeit und wird dann immer hektischer und schneller, was mir ganz recht war, denn je näher wir dem Jahr 1933 kommen, desto mehr wollte ich, dass das Buch aufhört und alles gut wird, was natürlich nicht geklappt hat. Ich habe die vielen Schilderungen von Stoffen, Möbeln, Gebräuchen, Sitten, Traditionen und persönlichen Biografien genauso gerne gelesen wie irgendwann die deutlicheren politischen Schilderungen. Im Nachwort steht das gut zusammengefasst, teils in Tergits eigenen Worten mit heute komisch klingendem generischen Maskulinum:

„Der unbarmherzige Motor und eigentliche Held des Romans ist die Zeit, wie Tergit zu Recht anmerkt: ‚Dass das äußere Geschehen überwuchert, ist vom Künstler so gewollt. Das gerade, dass wir alle mehr oder weniger seit 1914 gelebt worden sind, dass wir nicht mehr Herr und Meister unseres Schicksals waren, das soll eines der Charakteristiken der Schilderung sein“, schrieb sie 1948 an ihren Kollegen Walter von Hollander, mit dem sie im Auftrag des Verlages das Manuskript druckfertig machen sollte.“

Das Nachwort von Nicole Henneberg fand ich gerenell sehr aufschlussreich. Normalerweise spare ich mir Vor- und Nachworte gerne, aber hier wollte ich das Buch doch noch nicht gehen lassen, zum Glück. Einiges darin macht das Buch noch schwerer verdaulich, anderes ließ mich wieder an Nachkriegsdeutschland bzw. der Bundesrepublik verzweifeln wie so vieles, was ich in den letzten Jahren gelesen oder in Archiven gefunden hatte.

„‚Was meine Effingers angeht‘, schrieb sie 1949 an Ernst Rowohlt, der das Manuskript an den Springer-Verlag vermittelt hatte, so ist es ‚nicht der Roman des jüdischen Schicksals, sondern es ist ein Berliner Roman, in dem sehr viele Leute Juden sind, so wie im Käsebier viele Leute Juden waren. Das ist etwas ganz anderes und ich bin der Meinung, daß Springer einen grossen Fehler machen würde, wenn sie ein so stark deutsch kulturgeschichtliches Buch als jüdisch anzeigen würden.‘ Mit dieser Haltung, die ihren historischen Blick auf den Stoff betont, setzte sie sich politisch zwischen alle Stühle: Den deutschen Lektoren galt ihr Buch als jüdisch und 1950 damit als ethisch schwierig – bei Ullstein lehnte man ab mit dem Hinweis, nach dem Kriege dürften Juden nur als edle Menschen dargestellt wrden. Dieses Argument fand die Autorin historisch unhaltbar und lächerlich. Die gläubigen Juden kritisierten die sehr preußischen und patriotischen, überdies bürgerlich-verschwenderischen Hauptfiguren, während die Zionisten beklagten, dass Israel nur eine marginale Rolle spiele und der Zionismus als autoritärer, dem Judentum zutiefst widersprechender und gefährlicher, ja faschistischer Irrweg dargestellt würde. Selbst ihr Schwager, der in Jerusalem an der Universität lehrende und eher liberale Adolf Reifenberg, dem sie 1950 ihre Not mit dem Manuskript klagte, äußerte sich kritisch: ‚Die deutschen Juden sind geschlagen, zerschlagen, sie sind kein Faktor mehr und die Welt will sich ihrer Morde nicht mehr erinnern. Denn man braucht die Deutschen, ihre soldatischen „Tugenden“ (…) Nun schreibst du richtig, dass das Buch ja nicht für Deutsche oder „die Welt“ bestimmt ist und dass es auch deutsche Juden gibt und das Buch eigentlich für diese bestimmt ist. Aber auch diese deutschen Juden sterben aus. Wo immer sie auch sind[,] versuchen sie sich schnellstens zu assimilieren, haben keine Zeit und kein Geld zurückzudenken. Dies gilt für Israel ebenso wie für Amerika.‘ Immerhin wurde der Roman nach Erscheinen in einer israelischen Zeitung als Fortsetzungsroman abgedruckt, das Echo blieb marginal.

Das war auch in Deutschland so. Nur etwa dreißig Buchhändler waren bereit, die Effingers in ihr Sortiment zu nehmen. An Ilse Lagner schrieb Tergit nach dem begeisterten Feature von Frank Grützbach über Käsebier, dem ihre Wiederentdeckung und eine Einladung zu den Berliner Festwochen 1977 folgten: ‚Bei weitem mein wichtigstes Buch sind Effingers. Voss von Springer sagte 1953: „Bin ja neugierig, wie das antisemitische deutsche Volk dieses Buch aufnimmt.“ Es hat es gar nicht aufgenommen, glaube 2000 verkauft. (…) Alles fing 1977 an!!!‘“

Und dann noch ein kleiner verlagsinterner Diss:

„Doppeltes, existenzielles Gepäck trug Tergit bei sich, als sie mit ihrem neuen, britischen Pass 1948 erstmals nach Berlin reisen durfte. Nicht nur die Trauer über die zerstörte Heimatstadt drückte sie, sondern auch das 700 Seiten starke Manuskript der Effingers. Es war das letzte, das sie besaß – vier waren in den Kriegswirren untergegangen: Zwei torpediert, eines in Paris verschollen, eines bei Walther Kiaulehn in München verschwunden, eines hatte Alfred Döblin, der in der französischen Zone die Zeitschrift ‚Das goldene Tor‘ herausgab, an der Tergit mitarbeitete, in vielen Einzelpaketen an Rowohlt geschickt. Deshalb gab sie dieses letzte Exemplar nicht einmal Peter Suhrkamp, der ihr flehentlich mitgeteilt hatte, er habe ‚kein Material‘. Vielleicht wäre das Schicksal des Romans als Suhrkamp-Buch ein anderes gewesen?“

Nicole Hennenberg: „‚Mich interessieren Menschen‘“, Nachwort zu Gabriele Tergit: Effingers, München 2020, Erstauflage 1951, S. 887–899, hier die S. 891, 889/890 sowie 896.