Tagebuch Mittwoch/Donnerstag, 5./6. Mai 2021 – Mehltau
Ich schwanke derzeit fast täglich zwischen „Alles super“ und „Alles scheiße“. Mir fehlen etwas die Zwischentöne, und das macht mich sehr nervös.
An guten Tagen klappt alles, Sport, Ernährung, Kommunikation, Schreibtisch, während ich an schlechten nur denke, ich bleibe einfach so lange im Bett, bis es dunkel ist, dann muss ich nicht mehr aufstehen. Seltsamerweise hat die Erstimpfung diesen Zustand nur verstärkt – oder er wird mir jetzt erst bewusst, weil ich durch sie eine innere Ziellinie habe. Vor der Impfung – und vor allem nach der Abgabe der Diss, ihrer Verteidigung, ihrer Ãœberarbeitung für den Druck – war alles ein Brei, ein Waten durch den Nebel, man hatte kein Ziel, weil es schlicht nicht zu sehen war, man guckte auf die eigenen Füße, um nicht unterzugehen und das war’s. Das war einerseits fürchterlich, weil man eben nur auf die eigenen Füße geguckt hat, aber andererseits war es auch erleichternd: Der eigene Spielraum war quasi winzig bzw. positiv formuliert: überschaubar.
Seit der Erstimpfung ist mir die Fragilität meiner Gesamtsituation erst richtig bewusst. Ich bin noch vorsichter als vorher, obwohl ich inzwischen ja über einen gewissen Schutz verfüge. In zwei Wochen erhalte ich meine Zweitdosis, dann warte ich noch weitere zwei Wochen ab, bis der vollständige Schutz da ist – und dann kann ich theoretisch wieder all die Dinge tun, die ich mir jetzt verkneife, obwohl sie möglich wären: acht Stunden im ZI sitzen. Oder im Giftschranksaal der Stabi. Oder endlich die Archivtermine wahrnehmen, die noch sein müssen, um mein Manuskript zu vervollständigen. Aber ich sitze eben keine acht Stunden im ZI, weil ich noch nicht vollständig geimpft bin und ich es nicht auf den letzten Meter noch reißen will.
Gestern konnte ich mich ewig nicht aufraffen, überhaupt irgendwas zu machen und war schon stolz darauf, mein Altglas weggebracht zu haben. Derartig super motiviert ging ich dann wieder an den Schreibtisch und las besinnungslos die Bücher, die ich mir in den letzten Wochen aus der Stabi geliehen, in die ich aber bisher nur sehr kursorisch reingeguckt hatte. Das tat sehr gut. Es war nicht das gleiche wie im ZI zu sitzen und mich von Regal zu Regal treiben zu lassen, aber es war okay und vor allem besser als der blöde Mehltau, der gefühlt über mir liegt und den ich nicht von mir runterkriege.
Für Sport hat die Selbstdisziplin gestern nicht gereicht, aber immerhin für eine ordentliche Portion Tofu mit dem lustigen orangefarbenen Achuete-Öl, das vom Kare-Kare übriggeblieben ist. Und jetzt backe ich fünf Kuchen und heute abend kommt F. Wieder ne Woche geschafft.