Ich lese gerade ein Buch von Wolfgang Ruppert, sollte eigentlich nur ein bisschen Hintergrund zur Kunststadt München werden, aber jetzt haben sich doch ein paar Fußnoten in die Diss gemogelt, wie konnte das nur passieren. Gestern musste ich über einen Satz sehr lachen, und deswegen musste ich mal wieder was abtippen.

In diesem Kapitel geht es um den Wandel in der Wahrnehmung von Künstlern (und ein paar wenigen Künstlerinnen) im 19. Jahrhundert. Den ollen Geniebegriff schleppen wir ja seit Vasari und der Renaissance mit uns rum, aber Künstler waren stets gleichzeitig auch irgendwie Handwerker oder Ingenieure (siehe Leonardo). Im 19. Jahrhundert wurden Künstler, zumindest in Deutschland, als beseelter Gegenpol zur kühlen Wissenschaft rezipiert. Künstler galten nun als Menschen mit besonderer Begabung und einer „individuellen Wahrnehmungskompetenz“ (S. 275), Künstler wurden zu Bindegliedern zwischen Publikum und Werk, ihre Bilder, Texte und Kompositionen wurden durch die Gefühle des Publikums „verstanden“. Kunst und Musik ersetzten teilweise Religion und Mystizität – hier notierte ich mir „Wagner?“ an den Rand, um dann zwei Seiten später genau davon zu lesen: „Diese ‚Kunstreligion‘ verdichtete sich in der zweiten Jahrhunderthälfte in exemplarischer Weise in der charismatischen Person Richard Wagners. (S. 284)

Zur Einweihung des Bayreuther Festspielhauses 1876 trafen sich einige Künstler: „Hans Markart aus Wien, Franz Lenbach, Franz Defregger, Friedrich August Kaulbach und der Architekt Franz Seitz aus München sowie Adolph Menzel, Paul Meyerheim, Paul Lindau und Anton von Werner aus Berlin.“ Gerade Menzel ist mir seit Längerem ein Begriff, weil sein Werk „Eisenwalzwerk“ eine sehr bekannte Industriedarstellung ist, die auch im NS gerne als beispielhaft hochgehalten wurde.

Von Werner beschrieb seine Bayreuth-Eindrücke, und darüber musste ich wie erwähnt sehr lachen.

„Das Publikum, das nach Bayreuth gewallfahrt kam, war so entgegenkommend, begeistert und opferfreudig, wie es sich kein Autor besser wünschen kann, aber des Meisters Hofstaat und seine Anhänger schienen nach mehr als Anerkennung und Bewunderung für den Meister und sein Werk zu heischen: Anbetung, Vergötterung, und das ist nicht jedermanns Sache. Wenn man etwa behauptete, man habe Verständnis für Wagners Musik, so liefe man Gefahr, Unannehmlichkeiten zu erleben, denn des Meisters Werk sollte man nicht verstehen, man sollte daran glauben, und als bei den monotonen Rezitativen oder geringeren nicht enden wollenden Gesprächen des Wanderers gar H. von Angeli halblaut rief: ‚Der Menzel schläft schon!‘, sah ich mich, da unsere Künstlerecke doch eine verschwindende Minorität bildete und sich ein nicht misszuverstehendes entrüstetes Zischen vernehmen ließ, vorsichtig in dem dunklen Raume nach dem nächsten Ausgang um. Eine Art kriecherische Stimmung lag in der Luft, und eines Morgens bekräftigte ein junger Wagnerschwärmer seinen Glauben an den Meister bei Angermann am Biertisch auf offener Straße durch einen wohlgeführten Schlag mit einem Maßkrug auf die Nase seines weniger glaubensstarken Gegners.“ (S. 285)

„Der Menzel schläft schon!“ drucke ich mir aufs T-Shirt.

Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000.