Was schön war, KW 35 – Alles irgendwie

Fenster geputzt mit dem üblichen Effekt: Wow, ist das auf einmal hell hier.

Am vergangenen Sonntag gingen F. und ich in die Ausstellung von Matt Black im Kunstfoyer, „American Geography“ (hier die Seite des Künstlers mit Bildbeispielen). Sie läuft nur noch bis zum 12. September – wer noch Gelegenheit dazu hat, möge bitte reingehen. Kostet auch nichts.

Mir haben besonders die, ich nenne sie mal so, Cinemascope-Panoramen gefallen. Sie kamen mir vor wie eine große Erzählung, ein Epos, das mir mitteilt, was bisher geschah. Indem man am Bild entlang ging, las man die Story, die allerdings meist von Verfall und Verzweiflung berichtete.

Ich mochte die vielen Stromleitungen, die Blacks Fotos zerschneiden, und ich mochte bis zu einem gewissen Grad seine Eigenheit, Bilder kippen zu lassen, also den Horizont eben nicht horizontal zu zeigen. Simple Lesart: Alles ist in Bewegung, nichts ist sicher.

Ich sah das erste Triell und muss mir die anderen beiden vermutlich nicht mehr anschauen. An meiner Wahlentscheidung hat der Schlagabtausch nichts geändert, ganz im Gegenteil. Mein Wahlbrief ist schon im Kasten.

In dieser Woche war ich gefühlt jeden Tag in der Uni-Bib oder an der Packstation oder in Postfilialen, in denen Pakete landen, die nicht mehr in die Packstation passen. Meine geliebte Station in fußläufiger Nähe ist leider seit Ende Juli abgebaut, daher radele ich jetzt durch die Gegend und lerne neue Packstationen kennen.

Buch 1: Der Katalog zur Ausstellung der Gottbegnadeten im DHM in Berlin. Der Katalog ist weniger textlastig als ich gehofft hatte, aber er bildet viele der Werke von Künstlern, die schon zur NS-Zeit erfolgreich waren und ihre Karriere launig in der Bundesrepublik fortsetzen konnten, ab, aus beiden Zeitperioden. Die Karte dieser Skulpturen ist netterweise auch online.

Im Vorwort stand ein Absatz, von dem ich mir wünschte, er wäre mir zur Diss eingefallen, in der ich „NS-Kunst“ immer in Anführungszeichen schreibe:

„Wir haben uns bemüht, diese Künstler nicht als ‚NS-Künstler‘ und ihre Werke nicht als ‚NS-Kunst‘ zu bezeichnen. Wir wissen, welche Bedeutung sie für die NS-Herrschaft hatten; wie sehr sie zu dieser Herrschaft beigetragen haben. Aber indem man eine bestimmte Gruppe als ‚die Nationalsozialisten‘ auszumachen versucht, entlastet man andere Gruppen und Strömungen. Damit verkleinert sich das Problem der Mitwirkung und man wird den historischen Gegebenheiten nicht gerecht.“

(Raphael Gross: „Die ‚Gottbegnadeten‘ und unsere visuelle Welt“, in: Wolfgang Brauneis/Ders. (Hrsg.): Die Liste der „Gottbegnadeten“ – Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, München 2021, S. 10/11, hier S. 10.)

Meine liebste Erklärung für „NS-Kunst“ stammt von Joan Clinefelter, ich copypaste mal meine eigene Fußnote:

„Joan L. Clinefelter schreibt, dass sich faschistische Kunst nicht durch bestimmte Motive oder einen einheitlichen Stil definiert, den es zudem nicht gegeben hat, sondern durch einen „interpretive gloss placed on the works.“ Sobald ein Werk in einem Kontext auftaucht, der durch Partei oder Staat als zugehörig oder offiziell definiert wird – Ausstellungen, Sammlungen, Publikationen –, ist es „NS-Kunst“. Vgl. Clinefelter, Joan: Artists for the Reich. Culture and Race from Weimar to Nazi Germany, Oxford/ New York 2005, S. 4.

Der eben genannte Wolfgang Brauneis, einer der Kuratoren der Ausstellung, erwähnte übrigens Protzen in seiner Eröffnungsrede. Im Katalog kommt er aber nicht mehr vor, danach suchte ich natürlich als erstes.

Buch 2 und 3 waren Leserinnengeschenke, vielen Dank! Von Brit Bennett las ich The Vanishing Half mit Begeisterung und freue mich daher sehr auf ihren Erstling, The Mothers. Im zweiten Buch, Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 von Andreas Kossert las ich bereits das Vorwort – und musste feststellen, dass ich, obwohl meine Mutter aus dem ehemaligen Ostpreußen stammt, keine Ahnung von Vertriebenenpolitik nach 1945 habe. Alleine die Zahl der Geflohenen aus den ehemaligen Ostgebieten, die irgendwie im zerbombten „Altreich“ integriert werden mussten, erstaunte mich: 14 Millionen. Vierzehn Millionen! Und heute quengeln die Pappnasen von Rechtsaußen wegen eines Fliegers aus Afghanistan.

„Vor 1953 findet man für die Heimatlosen Bezeichnungen aller Art. Man sprach von Aussiedlern und Vertriebenen, von Flüchtlingen, Ostvertriebenen, Heimatvertriebenden, Ausgewiesenen und Heimatverwiesenen. 1947 setzte sich dann allmählich ‚Vertriebene‘ – expellees – durch, auch weil die amerikanische Besatzungsmacht das anordnete. Der Begriff sollte zum Ausdruck bringen, dass die Vertreibung endgültig war und keine Hoffnung auf Rückkehr bestand.“ (S. 10) In der DDR wurde spätestens 1950 „aus dem ‚Umsiedler‘ der ‚Neubürger‘.“ (S. 12) „Seit den 1960er Jahren spielte das Schicksal der Vertriebenen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum noch eine Rolle, und auch die Erinnerung an das historische Ostdeutschland schwand zusehends, bewahrt nur noch in den landsmannschaftlichen Biotopen. […] Vertriebene galten pauschal als Revanchisten, weshalb es unter Intellektuellen verpönt war, sich mit Flucht und Vertreibung der Deutschen zu beschäftigen.“ (S. 13)

Eigene Nase. Ich habe die Bewohner der ehemaligen Ostgebiete auch immer als nervige Konservative bzw. rückständige Nationalisten wahrgenommen. Erst seit Kurzem, seitdem ich überlege, was es bei Omi eigentlich an ostpreußischen Spezialitäten auf dem Esstisch gab und ich seitdem nach Rezepten aus der Gegend googele (oder Mama frage), ahne ich, dass mein Urteil vorschnell war.

„Die oft gepriesene materielle Integration der Heimatlosen im Wirtschaftswunderland gelang letztlich, weil die Vertriebenen nicht in der Rolle der Betroffenen verharrten, sondern selbst Hand anlegten […] Überliefert ist aber die Geschichte der Einheimischen, die angeblich ganz allein durch ihre gewaltigen Leistungen die Heimatlosen integriert haben. Für die Historikerin Helga Grebing gehört die Ignoranz gegenüber den Landsleuten aus dem Osten zu den deutschen Verdrängungsleistungen nach 1945, war gleichfalls eine ‚Unfähigkeit zu trauern.‘ […] Dass die Aufnahme der 14 Millionen nicht zur politischen Dauermalaise wurde, die Radikalisierung ausblieb, dafür zahlten die Vertriebenen mit Verleugnung ihres Schmerzes und kultureller Selbstaufgabe. Schlesier, Ostpreußen, Pommern, Deutschböhmen und Banater Schwaben, die über Jahrhunderte beigetragen haben zur Vielfalt der deutschen Identität, hatten fern der Heimat nichts mehr zu melden.“ (S. 14 und 16)

Bin sehr gespannt auf den Rest des Buchs. Vielen Dank für beide Geschenke, ich habe mich sehr gefreut.

Dann schickte Lektorgirl noch Buch 4 vorbei: Wagnisse: 13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer. Klingt erstmal spannend und macht den Stapel noch höher. Ächz.

Denn aus der Uni-Bib holte ich dusseligerweise zeitgleich den Katalog zur Ausstellung im Bucerius-Kunstforum in Hamburg, „Moderne Zeiten – Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“, die aber anscheinend ohne eine einzige Autobahn auskommt, sad. Und ohne einen Grossberg. Jetzt kann ich sie nicht mehr ernstnehmen.

Auch hier gelang mir bisher nur ein schweifender Blick in die Aufsätze, aber für diesen Absatz hat es sich schon gelohnt, weil ich innerlich nur so A-MEN, BROTHER, PREACH! vor mich hinbeckerfaustete.

„Industriefotografen pauschal zu den NS-Propagandisten zu zählen, würde den Ambivalenzen der historischen Wirklichkeit nicht gerecht. Auch wenn sich ein Mann wie [Albert] Renger-Patzsch mit dem Regime arrangierte, blieb er doch seiner Bildsprache der Neuen Sachlichkeit treu. Ohnehin sind die Kontinuitätslinien zwischen den 20er Jahren und dem ‚Dritten Reich‘ stärker als die Brüche oder Neuansätze. Gemeinschaft zu visualisieren, war etwa lange vor 1933 ein Topos der Industriefotografie, und auch die Porträts kräftig-stolzer Arbeiter waren keine Neuerfindung, sondern knüpften an ältere Traditionen an.“

Ralf Stremmel: „Dokumentieren und Inszenieren. Industriefotografie im Ruhrgebiet von 1860 bis 1960“, in: Kat. Ausst. Moderne Zeiten – Industrie im Blick von Malerei und Fotografie, Bucerius Kunst Forum Hamburg 2021, München 2021, S. 54–65, hier S. 62.

Renger-Patzsch fand ich in den Unterlagen im Bundesarchiv zur Ausstellung „Die Straße“ (1934), aber ich bin mir nicht sicher, ob seine Fotos schlussendlich ausgestellt oder nur angefragt wurden. Hat bei mir nur zu einer Fußnote gereicht.

Und das letzte Buch: Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit von Hanne Leßau. Ich sah die Autorin in einer YouTube-Veranstaltung, ich meine, vom Fritz-Bauer-Institut, aber der Link ist inzwischen auf privat gestellt. Daher verweise ich faul auf die gute Besprechung bei hsozkult.

Wenn ich nicht gerade Bücher durch die Gegend trug, war ich mit F. Bier trinken (Freitag), saß am Schreibtisch (die ganze Woche) oder baute (gestern) mit F. meinen neuen Kleiderschrank auf. Kleiderschränke sind die Möbelstücke, die ich am garstigsten von allen finde, weswegen ich mich in jeder Wohnung über Abstellkammern freue, denn da landen alle meine Klamotten. In dieser Wohnung nutzte ich Kommoden mit Schubladen und die Garderobe und einen Teil des leider zu kleinen integrierten Wandschranks und gefühlt noch das Bad, aber irgendwann musste ich mir eingestehen: Du brauchst einen Kleiderschrank. Hab ich jetzt.

Vorletzte Woche entdeckte ich irgendwie die Serie „Five Bedrooms“, die es im irgendwo im Interweb gibt. Die zwei Staffeln ließen sich sehr gut weggucken. Wenn Sie „Please Like Me“ mochten, mögen Sie „Five Bedrooms“ vermutlich auch.

Auf Netflix läuft die zweite Staffel von „Never Have I Ever“. Darin nutzt die pubertierende Hauptperson die Sprachnachrichten ihres toten Vaters, um sich zu beruhigen. Und auf einmal fiel mir ein: So was Ähnliches habe ich ja auch.

Ich lösche Sprachnachrichten nie, eher aus Faulheit denn aus Berechnung. Aber so hörte ich vor ein paar Tagen, wie Papa mir nochmal im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zum 49. Geburtstag gratulierte – „wir melden uns dann später nochmal.“ Das war sehr seltsam, aber auch sehr schön.

Die Staffel endet mit diesem Song, der seitdem in meinen Ohren wurmt.

Am Donnerstag hatte ich einen sehr, sehr, wirklich sehr wütenden Blogeintrag über Impfgegner in den Fingern, aber netterweise hatte McSweeney’s den schon geschrieben. (Via @misscaro)

„Oh, you’re afraid of fucking side effects? Fuck you. You know what has fucking side effects? Fucking aspirin, fucking Tylenol. You could be fucking allergic to pineapple, you fucking fuckwit. Everything has side effects. You’re being a big fucking baby with a huge diaper full of fucking diarrhea, complaining about maybe feeling slightly tired for a day or two while your asymptomatic COVID case you get and pass to some innocent fucking kid could wind up killing them or someone else. Fuck you, you fucking selfish fucking shit-banana, you unredeemable ass-caterpillar, you fucking fuck-knob with two fucks for eyes and a literal poop where your heart should be. You want a two-month-old to wind up on a fucking ventilator instead of you, a fucking adult, getting a fucking sore arm for a day? What are you, a pitcher for the Yankees? A fucking concert pianist? An arm model? Get the fuck out of here! Fuck you. Get vaccinated. Fuck. Fuck you!“

Ja, ich weiß, mit Anschreien bringt man niemanden dazu, sich vernünftig zu verhalten, aber nach anderthalb Jahren Nettsein, Überzeugen, Impfwerbung, Kanzlerinnenansprachen, Twitter-Threads und Drosten-Podcasts habe ich keine Lust mehr. Es war sehr beruhigend, den Artikel zu lesen.

Die Bilder in diesem Beitrag stammen von den Insta-Accounts Frances Palmer und Triple Wren Farms. Weil ich es schön finde, auf Insta lauter Blumen zu sehen.

Als Rausschmeißer noch einen Artikel aus der LA Book Review. Der jüdische Autor und Musiker Paul Festa schreibt über den Wagner-Brocken, den ich noch ein paar Wochen lese. Lohnt sich alleine für die herrliche Zusammenfassung der Götterdämmerung: „In which Siegfried is drugged into cheating on Brünnhilde, so she cancels everything with a torch, including him, herself, her horse, her father, his family, and the new construction.“

„Cancellation of the Gods“ nähert sich Wagner aus verschiedenen Richtungen und ich habe jede Zeile gern gelesen.

„I recently found myself accused of Jewish Wagner sympathy after asking on social media if anyone could recommend a production of Tristan und Isolde for my college seminar “Music for Masochists: Five Centuries of Difficult Listening in Western Classical Music.” Tristan gave tonal music a hard shove toward a sheer cliff and as such plays a pivotal role in the story of difficult music.

In response to my query, amid a few recommendations, someone deposited the hashtag #wagneriscancelled and assigned me to watch the Sarah Silverman music video about Jewish people who drive German cars. This stung: my first and most beloved car, the gift of my Jewish mother’s Jewish second husband, was a blue 1967 Volkswagen Bug. When you turned on the radio the windshield wipers activated; it was too human to be a Nazi.

I responded with a defense of Tristan that was heartfelt but also dishonest in a sense: I’d already canceled Wagner, at the age of 14. I needed help choosing a Tristan because I barely knew the opera, and that’s the Wagner opera I knew best. […]

Wagnerism [der Wagner-Brocken von Alex Ross] is primarily a book about the composer’s influence on nonmusical spheres. “Wagner’s effect on music was enormous,” Ross writes, “but it did not exceed that of Monteverdi, Bach, or Beethoven. His effect on neighboring arts was, however, unprecedented, and it has not been equaled since, even in the popular arena.” This struck me as overstated before getting through the book — not after. The cumulative effect of Ross’s survey is to suggest a kind of key to all modern mythologies: no significant political or aesthetic movement in the West seems to have escaped Wagner’s influence. Another effect is to confirm Ross’s status as a virtuoso generalist, equally at home in the harmonic thickets of the score as in the most unexpected corners of the literary fin de siècle. “Writing this book,” Ross declares in his introduction, “has been the great education of my life.”

Nach der Einleitung folgt eine Art Tagebuch, in dem Festa elf Wagner-Opern auf Video anschaut und seine Gedanken wandern lässt. Daraus kann ich kaum zitieren, weil alles aufeinander aufbaut, aber ich lege euch diesen Ritt sehr ans Herz. Und dieses Bernstein-Zitat für die Wagnerdooffinder: “I hate Wagner,” [Leonard] Bernstein said. “But I hate him on my knees.”