„Einmal, als ich noch im Kindergarten war, fand ich im Park einen toten Vogel. Er war sehr hübsch und hatte ein blaues Gefieder, vermutlich ein entflohenes Haustier.
Alle Kinder umringten ihn, und einige weinten. Der Hals des kleinen Vogels war verdreht, und seine Augen waren geschlossen.
‚Was sollen wir mit ihm machen?‘, fragte ein Mädchen.
Hastig nahm ich den kleinen Vogel an mich und lief zu meiner Mutter, die auf einer Bank mit anderen Müttern plauderte.
‚Keiko, was ist denn? Ach, ein Vögelchen … Es ist wohl jemandem davongeflogen. Das Ärmste! Wollen wir es begraben?‘, sagte sie und strich mir dabei liebevoll übers Haar.
‚Lieber essen‘, sagte ich.
‚Wie bitte?‘
‚Papa mag doch Hähnchenspieße so gern. Wir können den kleinen Vogel heute Abend braten‘, erklärte ich noch einmal deutlicher, weil ich glaube, sie habe mich nicht verstanden. Meine Mutter wirkte bestürzt, und auch die anderen Mütter rissen entgeistert Augen und Mund auf. Aber weil sie so auf meine Hand starrten, dachte ich, ein einzelner Vogel wäre wahrscheinlich nicht genug.
‚Soll ich noch mehr holen?‘ Mein Blick huschte zu ein paar in der Nähe herumhüpfenden Spatzen, woraufhin meine Mutter endlich ihre Fassung zurückgewann.
‚Keiko!‘, rief sie vorwurfsvoll. ‚Wir machen jetzt ein Grab für den kleinen Vogel. Guck mal, alle weinen. Ein Freund ist gestorben, das ist doch traurig. Tut dir der kleine Vogel nicht leid?‘
‚Wieso? Der ist doch tot.‘
Meiner Mutter fehlten die Worte. […]
‚Sieh doch mal, so ein niedliches kleines Vögelchen, meinst du nicht?‘, redete meiner Mutter mir zu. ‚Wir begraben es dort drüben, und ihr legt Blumen auf sein Grab, ja?‘
Letztendlich geschah es so, aber verstehen konnte ich es nicht. Die anderen Kinder standen um das Grab herum und jammerten, wie leid ihnen der kleine Vogel tue. Anschließend rissen sie überall Blumen aus, die dann auch tot waren. ‚So schöne Blumen. Bestimmt freut sich der kleine Vogel‘, sagten sie, und ich fragte mich, ob sie vielleicht den Verstand verloren hatten.“
Sayaka Murata (Ursula Gräfe, Übers.): „Die Ladenhüterin“, Berlin 2022, S. 9–11. Von Murata las ich bereits mit großem Vergnügen ihre Kurzgeschichtensammlung „Zeremonie des Lebens“, die ich euch nochmal ans Herz lege.
Und vielleicht könnte jemand in Muratas Wiki-Eintrag eben diese Sammlung richtig formatieren? Das habe ich leider nicht hinbekommen. Blöde Aufzählungszeichen. DANKE! (Hach, Internet!)