Mittwoch, 14. Dezember 2022 – Tomorrow
Ich las letzte Woche an einem Abend, in einer langen, schlaflosen Nacht und dann am darauffolgenden, sehr müden Tag ein Buch durch, das zu den besten gehört, die ich in diesem Jahr gelesen habe: „Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow“ von Gabrielle Zevin.
Der „Atlantic“ hat es in seine Liste der zehn Bücher des Jahres aufgenommen „that made us think most this year“ und die perfekte Zusammenfassung geliefert, die ich hier komplett übernehme:
„Many refer to Zevin’s novel as a book about friendship, but it isn’t so simple. The two main characters — Sam and Sadie, video-game designers whom we follow over 30 years — have a dynamic that’s hard to define: They’re collaborators in awe of each other’s minds, but they’re also resentful and competitive. They love each other, but much of the time, they don’t like each other. They’re like the rest of us — capable of caring for people fiercely and still failing them, again and again. If that sounds bleak, know that the book is also hopeful and tender. It takes its title from Macbeth, in which the title character essentially laments that we live our stupid little lives, week after week, just to die and be forgotten. Zevin, though, makes this human limitation feel beautiful. Real life isn’t like a video game; it doesn’t go on forever. But within a brief existence, redemption is possible — and precious.“
Die einzigen Stellen, an denen ich mit dem Buch haderte, waren wenige Zeilen, die mir zu preachy vorkamen oder mir Dinge erklären wollten, die nicht erklärt werden müssten. Ganz vorne dabei diese Stelle, bei der ich nicht weiß, ob da ein übereifriges Lektorat noch einen Halbsatz haben wollte:
„When Dov came down to the apartment to help Sadie set up Ulysses [eine Game-Engine], Marx hated him immediately: the leather pants, the tight black t-shirt, the heavy silver jewelry, the immaculate goatee, the eyebrows permanently in the shape of circumflexes, the topknot. “The poor man’s Chris Cornell,“ Marx whispered, referencing the lead singer of the grunge band Soundgarden.“
Echt jetzt? Auch wenn wir alle ein Buch in der Hand haben, ist das Smartphone meist in nicht allzu großer Distanz. Wer nach der ausführlichen Beschreibung immer noch nicht weiß, wie Chris Cornell aussah, kann das googeln. Und da findet man dann auch, in welcher Band er gespielt hat. Andererseits kommt drei Zeilen nach diesem Deppensatz ein weiteres Detail, was mich durch seine clevere Formulierung wieder versöhnt hat: „But it was Dov’s cologne that Marx loathed. […] It was, he felt, an aggressively male cologne, a roofie of a cologne.“ (S. 99)
Beim Satz „Unfortunately, the human brain is every bit as closed a system as a Mac“ half nur ein augenrollendes Emoji am Rand, das wollte ich nicht mal anstreichen. (S. 190)
Im Buch sind aber genug gute Sätze, weswegen ich diese Stellen irgendwann zähneknirschend verzieh. So was zum Beispiel, als Sam eine sterbende Person betrauert:
„For most of his life, Sam had found it difficult to say I love you. It was superior, he believed, to show love to those one loved. But now, it seemed like one of the easiest things in the world Sam could do. Why wouldn’t you tell someone you loved them? Once you loved someone, you repeated it until they were tired of hearing it. You said it until it ceased to have meaning. Why not? Of course, you goddamn did.“
Weil es hilft. Hoffentlich nicht nur der oder dem Trauernden.
In Bezug auf Beziehungen fand ich diesen Satz gut:
„One of the reasons they had become such good friends originally was because she had not insisted he tell his sad stories to satisfy her own curiosity.“ (S. 63)
Diese Idee, man müsste sich alles sagen und an allem teilhaben lassen und nur noch als Paar existieren, ist schwierig aus dem eigenen Kopf oder Herz rauszubekommen. So habe ich den Satz jedenfalls für mich gelesen. Genau wie diesen:
„There were so many people who could be your lover, but, if she was honest with herself, there were relatively few people who could move you creatively.“ (S. 217)
Auch da wieder eine Anspielung auf die überhöhte romantische Idee, der Partner oder die Partnerin müsste alles für einen sein anstatt auch Dinge an Freunde und Freundinnen oder Bekannte oder One-Night-Stands oder das Internet auszulagern. Was das Wichtigste an der eigenen Paarbeziehung ist, ist persönlich und entspricht selten dem Hollywood-Standard. (Der kann eh mal weg.)
Für mich war das Buch weit mehr als „nur“ ein Buch über Freundschaft. Ich mochte auch den Hintergrund der Videospiele, bei dem ich eigentlich befürchtet hatte, er würde über meinen Kopf gehen, weil ich nur Candy Crush, Farmville und Animal Crossing spiel(t)e; schon Sim City ging mir auf die Nerven, weil ich zu wenig Kontrolle hatte. Aber nach diesem Buch möchte ich dringend eine Playstation haben. Ein eher unerwarteter Leseeffekt.