Tagebuch Montag, 28. August 2023 – Wiechert
„Er machte sein Buch fertig, ohne rechte Freude. Es schien ihm ein Fehler darin zu liegen, daß er danach trachtete, seine Gedanken der Welt darzubieten. Die Welt konnte von Gedanken bewegt werden, aber war es nicht wie mit einem Pendel, das man mit der Hand über die beiden Ruhepunkte hinaustrieb? Die Uhr wurde doch nicht von dem bewegt, was jenseits der Punkte lag, sondern nur von dem, was zwischen ihnen schwang.
Und nun gar die Gedanken über Gott. Wer hatte ein Recht zu sagen: »Dies ist mein Gott, und ihr müßt wissen, was ich von ihm halte?« Alle Religionen waren so entstanden, aber aus allen war Blut geflossen, weil sie so entstanden waren. Gott sollte nicht gepredigt werden, ebensowenig wie Leben, Arbeit und Liebe. Sie sollten getan werden. Sie strahlten schon von selbst, wenn Strahlendes an ihnen war. Das Wort konnte ein Fluch sein. Es war der Klang, der die Lawinen löste. Es verdarb den Gang des Lebens. Das Brot, die Schlacht, die Zeugung, der Tod: sie entzogen sich dem Wort. Das Wort entheiligte sie. Die redenden Götter waren so verdächtig wie ein redender Stein. Die Gottheit war stumm wie die Sterne.
Er wußte so wenig. Er wollte arbeiten, vielleicht noch zehn Jahre, bis der Körper leise mahnte, daß dieser Teil seines Lebens sich schon neige. Und dann wollte er lesen. Sein Geist würde noch frisch sein, hungrig nach allen Erkenntnissen, die der Mensch jemals gewonnen hatte. Und nach seinen Irrtümern ebenso. Er sah es wie einen Dom vor sich stehen, den Bau des Menschengeistes, und es schwindelte ihn, wenn er hinaufblickte. Da war die Kunde von den Sternen und die von den Mikroben. Da waren Entdeckungen und Eroberungen, Pflanzen und Steine, Sagen und Märchen, Philosophen und Religionen. Fernrohre und Mikroskope standen da, Phiolen und Retorten, Liebesschwüre und Totenmasken, und dahinter die krausen Zeichen der Nekromanten, die niemals Gesättigten, die wie ein Gott bewegen und beschwören wollten.
Einmal sollte ihm nichts fremd sein auf dieser Erde. Er wollte es ohne Zweck wissen, die »Wunder des Universums«. Sie trugen ihren Zweck in sich, die Kraft, die Schönheit oder eben das Gesetz. Es hungerte ihn auf eine manchmal verzehrende Weise nach Erkenntnis. Er würde sie nicht mißbrauchen, er gewißlich nicht. Wie ein alter Zauberer würde er hier sitzen, eingesponnen in das Gewebe der Welten, und so lange lauschen, bis die Sphären ihm zu tönen begännen. Um ihn herum würden sie aufwachsen, begehren und hassen, lieben und vergeben. Er wußte, wie dies alles war, zeitlich und fragwürdig, schön und traurig. Er würde alt werden wie der Fischer Petrus und sich an den großen Krieg erinnern, wenn er nur noch eine Sage war, wie jener sich an die Zeiten der Beresina erinnert hatte. Das Laub würde fallen und wieder grün werden, die Gräber würden einsinken und die Kinder nach der goldenen Krone suchen. Aber er würde vielleicht einmal die Sphären tönen hören, den leisen Klang, mit dem die Achse des großen Gesetzes sich drehte. Er würde nicht Gott schauen wollen oder das Jenseits, nicht das Paradies und nicht die Hölle. Er würde nur einmal das Ganze sehen wollen, den Makrokosmos der Alten, dieses Eherne, Großartige und Gewaltige, in dem die Menschen wie Staub auf der Tenne waren.“
Ernst Wiechert: „Das einfache Leben“, München 1939, S. 298–300.