Tagebuch Dienstag, 29. August 2023 – Am Schreibtisch, knurrend
Den ganzen Tag zum Themenkomplex NS gelesen, was ich halt so mache. Dabei über diese Sätze gestolpert und länger nicht aus dem Hinterkopf bekommen, auch im Hinblick auf unsere heute politische Landschaft:
„München ist der Ort, an dem sich die NSDAP als politisch wirkungsvolle Kraft formuieren, konsolidieren und weiterentwickeln konnte. […] Damit sich die NSDAP als politische Kraft etablieren und erfolgreich entwickeln konnte, waren gesellschaftliche Rahmenbedingungen und mentale Grundhaltungen erforderlich, wie sie in der bayerischen Hauptstadt offensichtlich stärker verankert, vorhanden und nutzbar waren als in anderen Städten. München lag in den 1920er Jahren nicht an der Peripherie der Reaktion, sondern bildeten deren eigentliches Zentrum.“
Elisabeth Angermeier, Andreas Heusler: „Münchner Kulturpolitik im Nationalsozialismus“, in: Henning Rader, Vanessa-Maria Voigt (Hrsg.): „Ehemals jüdischer Besitz.“ Erwerbungen des Münchner Stadtmuseums im Nationalsozialismus, München 2018., S. 78–85, hier S. 79.
Der Begriff „mentale Grundhaltung“ hat mich kurz innehalten lassen. Ich hadere quasi seit den ersten politischen Erfolgen der AfD damit, dass derartige Wahlergebnisse in diesem Land überhaupt (wieder) möglich sind. Wo nach den Erfolgen der NPD Ende der 1960er Jahre noch ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber herrschte, dass diese Ergebnisse eine Schande sind und gefälligst abzustellen, bröckelte diese Front in den 1990ern erneut, als die Republikaner plötzlich in Bayern Stimmen bekamen. Oder in Hamburg der beknackte Richter, dessen Namen ich nicht googeln will (edit: Ronald Schill). Aber auch dort folgten auf das Entsetzen deutliche Ansagen, dass mit diesen Parteien keine gemeinsame Sache gemacht wird, weswegen sie bei den nächsten Wahlen wieder nichts mehr zu sagen hatten.
Anders ist es mit der AfD. Ich will nicht zu viel auf die beängstigenden Umfragen geben, die derzeit durch alle Medien gereicht werden, denn in Umfragen rumzublöken ist immer noch etwas anderes als zur Wahl zu gehen und abzustimmen. Trotzdem hat sich die AfD als politische Kraft etabliert und das sogar im Bundestag, was mich weiterhin fassungslos macht. Von den Reaktionen und Appeasements der CDU/CSU will ich gar nicht anfangen, und auch Aiwangers Flugblatt lasse ich hier unkommentiert, ihr wisst das alle.
Aber seit gestern hat sich meine Aufmerksamkeit etwas verschoben. Wo ich bisher immer darauf gehofft hatte, dass der Teil der Bevölkerung mit einer gesichert rechtsextremen Einstellung klein bleibt, macht mich die oben angesprochene „mentale Grundhaltung“ jetzt sehr nervös. Die Abgrenzung zur AfD ist nicht deutlich genug, die Vertreter*innen dieser Partei, für die ich besonders gern ein Gendersternchen benutze, können relativ ungestört ihr Gedankengut verbreiten und damit den Boden bereiten für eine Haltung und ein gesellschaftliches Klima, die sich immer mehr nach rechts neigen könnten.
Die Versuche, diese Partei zu bezwingen und ihren Fans zu sagen, dass ihr Gedankengut nicht bürgerlich oder freiheitsliebend, sondern im Gegenteil faschistisch ist, müssen deutlicher und konsequenter werden. Auch das ist uns, die wir diese Partei niemals wählen würden, sehr klar. Ich würde mich freuen, wenn es auch allen anderen klar werden würde. Bröckelnde Brandmauern bringen uns nicht weiter, genauso wenig, wie mit Rechten zu reden, hallo, Sommerinterview und DLF. Keinen Fußbreit weiter.
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Und dass Holocaustverharmlosung wieder en vogue wird, macht mich nicht weniger nervös. (Aus der FAZ von Stephan Malinowski, dank archive.ph auch ohne Paywall lesbar.)
„Bereits vor Jahren hatte Moses die Deutung des Holocaust als „subaltern genocide“, also ein Genozid der Unterworfenen gegen die Herrscher, entworfen. Diese besagt, die Deutschen hätten sich in einer „kolonialen“ Unterjochung durch die Juden geglaubt. So wird die Ermordung der europäischen Juden zum imaginierten Teil eines antikolonialen Befreiungskampfs. Breite Pinselstriche und freie Assoziationen dieser Art lassen Formulierungen erblühen, die methodisch und stilistisch an Ernst Noltes perfide Sprachspiele der Achtzigerjahre erinnern – hier erscheint die Schoa als der „radikalste Fall präemptiver Gegenwehr der Weltgeschichte“. Für erklärungsstark hält Moses zudem die Figur der „verängstigten Patrioten“, die – in ihrem „paranoiden“ Selbstverständnis – im Namen der Sicherheit agiert hätten.
Viele dieser Formulierungen muss man mehrfach lesen, bis man glaubt, dass sie dort wirklich gedruckt stehen: „Die Einsatzgruppen verkörperten den Sicherheitsimperativ im Feld.“ Die Behauptung, Täter hätten sich vor allem in einer Art Gefahrenabwehr gesehen, müsste noch gegen den Forschungsstand durchgesetzt werden. Die Krankenmorde im Rahmen der T4-Aktion, die Ermordung der Sinti und Roma, die Jagd auf jüdische Kleinkinder auf Rhodos, in Amsterdam oder Bordeaux, ihr Transport quer durch Europa an Orte, deren einziger Zweck in der Ermordung der größtmöglichen Zahl einzelner Menschengruppen bestand, die Entkoppelung der Mordprozesse von militärischer und ökonomischer Logik – all das lässt sich damit nicht verbinden.“