Tagebuch Montag, 25. September 2023 – Disziplin
Ich lese gerade Ina Seidels „Das Wunschkind“, in dem mir eine für mich neue Formulierung unterkam. Wir befinden uns gerade in Mainz, kurz nach der Französischen Revolution, und die Hauptfigur Cornelie, so halb adelig, aber mindestens begütert, denkt über ihre Verantwortung den Armen gegenüber nach:
„Wie sie es von ihren eigenen Untergebenen zu erwarten gewohnt war, so nahm sie von allen Armen der Welt an, daß sie irgend jemand untertan und zu Gehorsam und Leistung verpflichtet seien, wie brave Kinder ihren Eltern, auch wenn diese von gerechter Strenge waren. Bibel, lutherischer Katechismus, preußische Staatsräson und fritzische Disziplin waren die Pfeiler dieser Überzeugung, die sich bisher restlos bewährt hatte. Daß nun auf einmal eine andere Anschauung der Weltordnung, daß eine Beleuchtung von unten her sich durchsetzen wollte, ohne daß Gottes Weisheit den rebellischen armen Leuten sogleich mit Blitz und Donner kräftig die Köpfe klärte, dies war verwirrend.“
Ina Seidel: „Das Wunschkind“, Stuttgart 1955 (Erstausgabe 1930), S. 67.
„Fritzische Disziplin“ war mir neu und ist mir sofort unsympathisch.
Das Buch strengt etwas an, aber ich werde es mit fritzischer Disziplin weiterlesen, denn ich bin doch neugierig, wo es noch mit mir hinmöchte. Und meist mag ich die vielen Adjektive von Frau Seidel. Ihre Formulierungsfreude, die Themen gerne über mehrere Seiten ausführt, erinnert mich an Thomas Mann, bei dem ich mich auch des Öfteren nach 30 Sätzen frage, wann Er denn mal zum Punkte kommen wolle, aber Seidel schreibt, zumindest in den ersten Kapiteln, eher über duftende Kinder, die Natur und Zuneigung zu anderen Menschen, während Mann weltmännisch (see what I did there?) vor sich hinphilosophiert, und momentan finde ich duftende Kinder interessanter, auch überraschend für mich.
Eben habe ich die Aussprache der Hauptperson gegoogelt: Auf den ersten 50 Seiten hatte ich sie im Kopf immer CorneLIE ausgesprochen, bis mir einfiel, dass es ja auch CorNElie wie Cornelia ausgesprochen werden kann. Das nehme ich jetzt. „Cornelie“ war mir auch neu. Ich lerne so viel in diesem alten Ding!