Montag, 29. Januar 2024 – Tagebuch und Diss
Die ersten Briefe und Tagebücher von Maxie Wander durchgelesen. Es gibt noch einen weiteren Band, den werde ich mir auf jeden Fall leihen.
Ich spazierte beim Lesen im Zeitraffer durch ein fremdes Leben, musste unwillkürlich vergleichen oder wurde an Dinge, Ereignisse oder Worte erinnert, die ich entweder aus westlicher Perspektive anders wahrgenommen oder bereits vergessen hatte. Den Begriff „Westfernsehen“ habe ich zum Beispiel schon ewig nicht mehr gehört, ob ich ihn selbst benutzt habe, weiß ich gar nicht mehr. Dass Wander von ihrem Häuschen in Kleinmachnow manchmal Schüsse an der Grenze hörte und an Krieg dachte, hat mich völlig überrascht; in meinem Kopf war die Mauer immer ein komplett abgeriegeltes Gebiet, fast klinisch exakt aus der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt. Ich war in der Mitte von Niedersachsen anscheinend weit genug weg von allem, obwohl mein Vater bei einer Firma arbeitete, die die sogenannte Zonenrandförderung erhielt. Mit der Wiedervereinigung wurde der Zweig in Hannover geschlossen, weswegen mein Vater noch kurze Zeit am Hauptsitz in Berlin arbeiten musste, bevor er in einen frühen Ruhestand ging. Berlin war so gar nicht seins, da bin ich ganz Tochter meines Vaters.
Wander erlebt noch die Veröffentlichung ihres ersten Buchs kurz vor ihrem Tod. Ich musste erneut an Papa denken; ich bin immer noch traurig darüber, dass er geistig schon nicht mehr in der Lage war, meinen eigenen größten Erfolg, die Abgabe und die erfolgreiche Verteidigung meiner Dissertation, zu verstehen. Auch mit meinem Buch konnte er natürlich nichts mehr anfangen.
Dann dachte ich aber daran, dass ich Teile der Diss in der alten Heimat geschrieben habe, wenn ich wieder für ihn zuständig war, als er noch zu Hause gelebt hat. Ich weiß noch, dass ich am elterlichen Wohnzimmertisch die Einkünfte von Protzen zusammengerechnet habe, die er im Werkverzeichnis notiert hatte. Diese verglich ich mit seinen Angaben im Spruchkammerbogen. Papas Krankenbett war im Esszimmer, das direkt ins Wohnzimmer übergeht, ich guckte also ab und zu zu ihm rüber, während ich Dinge durchblätterte und am Handy Summen zusammenzählte. Er freute sich immer, wenn irgendjemand da war, also tippte ich gerne im Wohnzimmer, wenn der Fernseher gerade nicht lief.
Ich erinnere mich auch, von irgendjemand Wildfremden im Internet digitale Quellen zugeschickt bekommen zu haben, die ich auf Papier nicht finden konnte und über die ich teilweise beim Googeln gestolpert war. Auch diese öffnete ich erstmals, als ich gerade im Wohnzimmer saß. Und ich weiß noch, dass ich mich am elterlichen Küchentisch erstmals mit den ehemaligen Ostgebieten befasste bzw. die ersten Absätze zu diesem Thema schrieb. Das hatte ich völlig vergessen, dass Teile meiner Diss in Niedersachsen entstanden sind und dass Papa noch ein bisschen mitbekommen hat, an was ich arbeite. Das war schön, daran zu denken, auch wenn es mich traurig gemacht hat.