Samstag, 15. Juni 2024 – Béla Bartók und Brandy Alexander
F. und ich saßen endlich mal wieder in der Isarphilharmonie. Merke: Der Winter ist erst rum, wenn du nichts mehr an der Garderobe abgeben musst, bevor du in den Saal gehst. Das war gestern.
Die Münchner Philharmoniker haben die sympathische Angewohnheit, ihr Programmheft grundsätzlich ewig im Vorfeld schon als PDF online zu stellen, das heißt, man kann theoretisch schon vorher etwas zu den Stücken lesen. Mache ich eher selten, mich interessiert aber immer, von wann die Musik ist, die ich hören werde. Gestern war ich irgendwie verpeilt und vergaß das, okay, Bartók konnte ich noch halbwegs zuordnen, Tschaikowsky eh, aber bei Zoltán Kodály musste ich passen und hoffte aufs 20. Jahrhundert. Normalerweise kauft sich F. immer ein Programm zum Andenken, und ich kann spicken, aber: Die freundliche Dame in ihrer Programmheftbox musste uns leider sagen, dass es keine gäbe, hier ein ausgedruckter Zettel mit der Abfolge.
Als wir im Saal saßen, betrat dann auch neben dem Orchester und der Gastdirigentin Joana Mallwitz noch ein Herr mit Mikro die Bühne, der uns darüber aufklärte, dass die gedruckten Programmhefte schlicht verschwunden sind: „Wir können sie nicht finden.“ Das sei eine Premiere. Ob das auf dem Weg von der Druckerei nach München oder sonst wo passiert ist, erfuhren wir nicht, aber als Ausgleich hatte sich Mallwitz dazu bereit erklärt, zum Stück von Kodály nach der Pause etwas zu sagen.
Aber erstmal gab’s von Bartók „A csodálatos mandarin“ (Der wunderbare Mandarin), eine Pantomime in einem Akt von Menyhért Lengyel, op. 19 Orchestersuite Sz 73. Das fand ich ganz großartig und freue mich, es in einer Aufführung vom hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada auf YouTube gefunden zu haben, die ich beide sehr schätze. Worum es im Stück ging, las ich erst eben im oben schon erwähnten Programmheft-PDF nach. Machen Sie das auch mal, ich zitiere nur ein bisschen Aufführungsgeschichte:
„»Wie soll ich aber beschreiben, welchen Skandal dieses Werk beim Publikum und besonders bei der Presse hervorrief!« Mit einem Stoßseufzer leitet der ungarische Dirigent Jenő Szenkár eines der aufregendsten – und deprimierendsten – Kapitel ein, die er in seinen Memoiren zu berichten weiß: die Uraufführung des »Wunderbaren Mandarin«, der »Pantomime in einem Akt« seines Landsmanns Béla Bartók. Als Generalmusikdirektor in Köln war es Szenkár gelungen, sich das Privileg der historischen Premiere zu sichern, die am 27. November 1926 im alten Opernhaus am Rudolfplatz über die Bühne ging. Aber die Zuschauer, sofern sie nicht schon vorzeitig den Saal verlassen hatten, dankten ihm dieses Verdienst nur schlecht. Wütendes Zischen, Pfiffe und Pfui-Rufe, Geschrei und Beschimpfungen schlugen dem Komponisten und seinem getreuen Kapellmeister am Ende entgegen. Und die aggressive Empörung wogte in konzentrischen Kreisen durch die ganze (zutiefst katholische) Stadt, rief Politik und Kirche auf den Plan, zog Krisensitzungen und Protestkundgebungen nach sich und in der Presse nicht enden wollende Tiraden über das »Dirnen- und Zuhälterstück mit Orchestertamtam«.
Schließlich wurde Szenkár ins Amt des Oberbürgermeisters zitiert, zu Konrad Adenauer. »Ich ahnte Böses!«, gestand der Maestro im Rückblick auf diese denkwürdige Begegnung. »Dr. Adenauer empfing mich kühl und reserviert, platzte aber sogleich mit der Sprache heraus, machte mir die bittersten Vorwürfe, wie es mir eingefallen wäre, so ein Schmutzwerk aufzuführen, und forderte die sofortige Absetzung des Werks! Ich versuchte ihn von seinem Irrtum zu überzeugen; Bartók sei unser größter zeitgenössischer Komponist, man möge sich nicht vor der musikalischen Welt lächerlich machen! Doch er beharrte auf seinem Standpunkt, das Stück musste vom Spielplan verschwinden!« Wie befohlen, so befolgt. Auch wenn Jenő Szenkár zeitweilig seinen Rücktritt erwog, konnte er nicht verhindern, dass der erste Abend des »Mandarin« in Köln vorläufig auch der letzte war. Und Konrad Adenauer ging damit in die Musikgeschichte ein.“
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Nach diesem aufwühltenden Beginn wurde es erwarteterweise plüschiger. Es gab Tschaikowskys Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 mit Anna Vinnitskaya am Klavier, und wenn Sie das Stück anspielen, haben Sie nach drei Takten Lust auf Jogurt. Hier eine Aufnahme mit Khatia Buniatishvili und dem Orchestre de Paris unter der Leitung von Klaus Mäkelä. Eigentlich wollte ich das nur kurz anklicken, um den Link zu copypasten, aber jetzt höre ich es doch weiter – was mich erstaunt, denn gestern abend war ich einen winzigen Hauch gelangweilt, so direkt nach dem Bartók.
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Ich hätte Wetten darauf angenommen, dass die Glocken, die im Hintergrund bei den Percussionisten rumstanden, für Tschaikowsky wären, aber nein, die kamen erst nach der Pause bei Zoltán Kodálys „Háry János“-Suite zum Einsatz. Hier erneut das hr-Sinfonieorchester, dieses Mal unter der Leitung von Juraj Valčuha. Auch dieses Stück ist eine vertonte Geschichte, die uns Mallwitz in Kurzform erzählte; ich habe ihr gern zugehört.
„Das Singspiel »Háry János« hatte 1926 in Budapest Premiere und fand durchaus Anklang. Einen großen Erfolg auf den europäischen Musikmarkt konnte sich aber keiner so richtig vorstellen. Kodály arbeitete daher Teile der Musik um. Die »Háry-János«-Suite ist eine Art marktgerechtes »Best of« des Singspiels. Sie ist kostengünstiger aufzuführen, da man weder Kostüme noch Bühnenbild braucht. Auch lässt sie sich international besser vermarkten, da sie nicht an den ungarischen Text gebunden ist. Kodály wählte für die Suite vorwiegend Instrumentalmusik aus dem Singspiel. Nach der Einleitung folgen fünf Sätze. Kodály ordnete die Stücke so, dass sich Tempo, Form und Besetzung abwechseln: Einleitung, dann ein zügiges Rondo, ein liedhaftes Stück, ein überzeichneter Marsch, ein rascher Tanzsatz und ein groteskes Finale. Damit ist die Reihenfolge eine andere als im Singspiel. Viel über die Handlung muss man also nicht wissen, wenn man die Suite im Konzert hört. Die aussagekräftigen Überschriften lenken die Ohren und die Wahrnehmung. Aber an manchen Stellen, wie etwa dem Anfang, schadet es nicht, etwas mehr zu wissen.“
Der Anfang ist das Niesen der Studenten, denen Kriegsveteran Hary seine wilde Räuberpistole erzählt, in der Napoleon, seine Frau und die Habsburger vorkommen. Das erwähnte auch Mallwitz, die aber auch – richtigerweise – sagte, eigentlich muss man zu Musik überhaupt nichts wissen, man kann sie auch einfach so genießen. Finde ich ehrlich gesagt auch: Ich wusste nichts von der Bartók’schen Handlung, und das Stück war mein liebstes gestern abend.
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Die Samstagskonzerte fangen meist schon um 19 Uhr an, so dass wir bereits um kurz nach 21 Uhr mit allem durch waren. Es war also noch Zeit für einen winzigen Drink in der Bar Tantris, oder wie F. es ausdrückte: „Fahr’n ma zum Jörg.“
Dieses Mal wollten wir etwas zum Wachwerden, woraufhin wir einen Ramos Gin Fizz erhielten, der uns mit Sahne und Eiweiß überraschte, aber trotzdem total erfrischte. Da wir sonst nie Dinge mit Sahne ordern, nutzten wir den Abend, um bei dieser Art Cocktail zu bleiben und bekamen als Nachfolger einen schönen, altmodischen Brandy Alexander, in den ich mich genau wie in den ersten Drink hätte reinlegen wollen.
(Ist mir erst nach dem Fotografieren aufgefallen: Hinten könnt ihr die heilige Küche mit den bekannten orangenen Kacheln sehen, weil die Schiebetür gerade kurz geöffnet war.)
Einen dritten Sahne-Cocktail wollten wir dann aber nicht mehr, uns gefallen die klareren Sprit-Dinger doch besser. Ich erinnerte mich an den wunderbaren Vieux Carré aus meinem Solo-Bar-Abend, der auch gerade den Gästen neben uns an der Bar serviert wurde. F. schaffte noch einen vierten Cocktail, eine äußerst sprithaltige Eigenkreation, vor der ich die Waffen strecken musste.
Was ich viel lieber gehabt hätte: eine Zigarette. Als ehemalige Raucherin habe ich so zwei-, dreimal im Jahr Lust auf eine einzige Kippe, das Gefühl, sie in der Hand zu halten, der Genuss, den Rauch auszuatmen. Nachdem ich sinnloserweise alle Gäste beobachtet hatte, ob einer von ihnen vor die Tür ginge, wo ich gnadenlos geschnorrt hätte, fragte ich den Barkeeper, ob er wüsste, wo ich eine einzige Zigarette herbekäme. Woraufhin kurze Zeit später jemand aus der Küche kam und mir ein kleines Tellerchen überreichte, auf dem eine gestärkte, gefaltete Serviette lag, darauf eine einzelne Zigarette, daneben ein Streichholzbriefchen mit dem Tantris-Logo. „Ist Camel okay?“ War total okay, kein Light-Scheiß, danke an den unbekannten Koch oder Spüler, der eine Zigarette entbehren konnte. Ich schulde dir was! Das war ganz herrlich, damit vor dem Restaurant zu stehen und, ähm, mich ein bisschen am Logo abstützen zu müssen, weil halt viele Drinks. Das war dann auch der Moment, in dem ich merkte, dass F. meinen vierten Cocktail austrinken musste, während ich beim Wasser blieb.
Ich hätte den schönen Teller mit der einzelnen Zigarette fotografieren sollen, aber da hatte die Gier schon gesiegt.