Samstag, 29. Juni 2024 – Erstes Mal Elphi

F. und ich waren für einen sehr kurzen Kurztrip in Hamburg, Freitag am späten Nachmittag angekommen, ging es Sonntagmorgen schon wieder zurück. Für die Statistik: Hinfahrt fast pünktlich OMG, Rückfahrt 30 Minuten Verspätung. Für mich eine noch recht neue Erkenntnis: um wie viel schneller die Zeit vergeht, wenn man nicht liest, sondern Podcasts hört. Vermutlich auch, weil ich bei denen dauernd wegnicke, was überhaupt der beste Zeitvertreib auf langen Zugfahrten ist.

Ich hörte dieses Mal den Sommelier-Podcast von Silvio Nitzsche. So ganz glücklich bin ich mit seiner Gesprächsführung noch nicht, denn ein Teil des Konzepts ist es, allen Gästen dieselben Fragen zu stellen. Und die eingesprochenen Werbeblöcke sind unerträglich in ihrer Künstlichkeit. Trotzdem habe ich die gut zwei Stunden komplett gehört, denn die aktuellen Gäste sind unsere Lieblingswirte aus dem Lieblingsgasthaus, dem Waltz.

Gegessen und getrunken haben wir unter anderem in der Bar Three Fingers, die sich im Hotel Pier Drei in der Hafencity befindet. Die Drinks auf der Karte waren okay, wir bestritten mit ihnen höflicherweise auch die erste Runde, aber danach zauberten wir dem Barkeeper ein Lächeln ins Gesicht mit unseren Extrawünschen, denn inzwischen haben wir in der Bar Tantris gelernt, was uns schmeckt. F. bat um einen Old Fashioned, bei dem erstmal die Whiskysorte besprochen wurde. Ich wünschte mir einen Rum-Martinez, bei dem der Barkeeper überlegen musste, ob er eine bestimmte Zutat im Haus hätte – ob ich sonst einen Espresso Martini mal mit Rum probieren wolle? Das klang auch spannend, aber anscheinend war alles Notwendige vorrätig, ich bekam den Martinez und war glücklich.

Einen Abend später nahmen wir den Absacker nach unserem ersten Konzert in der Elbphilharmonie in einer weiteren Hotelbar, nämlich die, die auf der Ausgangsebene der Elphi liegt: das Blick im Westin. Die Drinks waren ebenfalls okay, mir ein bisschen zu gewollt anders, und hier sah es auch nicht so aus, als ob wir jemanden mit Sonderwünschen glücklich gemacht hätten. Aber als Ausklang eines etwas seltsamen Abends völlig in Ordnung. Und natürlich bester Blick aller Zeiten auf Hamburg.

Eigentlich hätte ich am späten Freitagabend einen Termin in Hamburg gehabt, um den wir dann noch den Besuch in der Elphi rumstrickten, aber diesen Termin sagte ich aus Gründen ab. Stattdessen sah ich meinen ältesten Freund wieder und es gab nach einem Burger mit der ganzen Familie die oben genannten Drinks, was ich für eine weitaus bessere Nutzung meiner Zeit halte.

Samstag morgen sahen wir eine Ausstellung mit Fotografien von Henri Cartier-Bresson im Bucerius-Kunstforum, nachdem wir zunächst im Falke-Store im Hanseviertel neue Socken für Herrn F. erstanden, der eben diese vergessen hatte, und zu einem schicken Anzug für die Elphi gehören halt auch schicke Anzugsocken.

F. als Hobbyfotograf nahm vermutlich mehr aus der Ausstellung mit als ich; ich fand sie anstrengend gehängt und verlief mich dauernd zwischen den vielen Themen. Womit sie mich allerdings total kriegte: mit einem halbstündigen Film, den Cartier-Bresson 1945 (!) mit Kriegsgefangenen in Deutschland drehte, die nach Frankreich zurückkehrten. Was ich vorher nicht wusste: Cartier-Bresson war selbst seit 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen, aus der er nach zwei vergeblichen Fluchtversuchen 1943 entkommen konnte. Der Film „Le Retour (Die Rückkehr)“ zeigt Szenen aus deutschen (Konzentrations-)Lagern, die von der US-Armee bzw. der Roten Armee befreit wurden. Er beschreibt in wenigen Worten und vielen Bildern, wie Millionen von Displaced Persons nun versuchen, in ein anderes Leben zurückzukehren oder aufzubrechen. Der Tonfall ist weniger verherrlichend ob der gelungenen Militäroperation, als ich erwartet hatte; Teile des Bildmaterials wurden von der US-Armee in anderen Zusammenhängen verwendet, wo der Tonfall deutlich anders war; ich las im Foyer den betreffenden Aufsatz im ausliegenden Katalog und hoffe, ich zitere halbwegs korrekt.

Ich habe vom Film hauptsächlich eine große Empathie für Menschen mitgenommen, die ich auch in vielen der Bilder von Cartier-Bresson wiederfinde. Die hatte ich vorher nicht unbedingt mit ihm verbunden, ich hatte ihn eher als unbeteiligten Chronisten wahrgenommen. Das Bild konnte die Ausstellung absolut erweitern.

Danach Geld in einem Kunstantiquariat gelassen. Eine Ausgabe von Erna Lendvai-Dircksens „Ein deutsches Menschenbild“ (1961) gefunden, das vor 1945 noch „Das deutsche Volksgesicht“ hieß. Außerdem ein gefühlt zehn Kilo schweres Buch ins Hotel geschleppt, das den wunderbaren Titel „Der Bergbau in der Kunst“ (1958) trägt und vom Verlag Glückauf, Essen, herausgegeben wurde. Ich bin kunsthistorisch bei den Autobahnen gelandet, weil ich Darstellungen von technischen Werken so mag, und es gibt erstaunlich wenig Literatur zu diesem Thema.

Lecker Galettes und Crêpes im Ti Breizh genossen, das kannte ich noch aus meiner Zeit in Hamburg.

Und abends dann aufgedotzt für unseren ersten Besuch in der Elbphilharmonie. Wir freuten uns sehr auf einen tschechischen Abend: Es sollte Smetana, meinen Liebling Martinů sowie Grandmaster Dvořák geben, aber ein paar Tage vor dem Konzert erreichte uns eine Mail, dass der Sologeiger Leonidas Kavakos aus gesundheitlichen Gründen nicht Martinů mit dem Orchester spielen würde, sondern – Mozart. Ausgerechnet. Fucking Mozart! Ich überlegte ewig, was wohl diese Gründe waren, denn auf der Bühne sah der Herr nicht gebrechlich aus, aber ich ahne, dass er im Vorfeld des Konzerts zu lange an irgendwas laboriert hatte, um das Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 H. 293 (1943) einzustudieren. Für den Mozart kann man ihn wahrscheinlich nachts um 4 wecken und den fiedelt er runter.

Aber egal, erstes Mal Elphi ist erstes Mal Elphi. Wie erwähnt trugen wir unseren feinsten Zwirn, wie es sich gehört und wie wir in Münchner klassischen Konzerten immer aussehen – und waren total overdressed. Schon im Hotel-Fahrstuhl wurden wir gefragt, wo wir denn so elegant hingingen, und die jungen Herren, die auf den Fleetstufen rumchillten und zwischen denen wir durchstapfen mussten, meinten auch, wer so gut aussehe, dem mache man doch gerne Platz. Ich nehme Komplimente, wo ich sie kriegen kann, behaupte aber weiterhin, dass sie eher F. galten in seinem hellgrauen Slim-Fit-Anzug und Ray Ban als mir verschwitzer Kugel in dunkelblauem Rinaldi.

An der Elphi musste ich außen natürlich das obligatorische Foto machen, alle danach habe ich vergessen, denn das Gebäude ist noch viel schöner als ich es erwartet hatte. Die lange Rolltreppe bringt einen auf die Höhe der Plaza (8. Stock), wo geschwungene Glastüren einen auf den Umgang führen, auf dem man einmal komplett um das Gebäude rumwandern und sich Hamburg von oben angucken kann. An zwei der Seiten gab es sogar Sitzgelegenheiten, die aber alle besetzt waren, kein Wunder. Das würde ich als Hamburgerin ja dauernd machen: Snack und Champagner einpacken, ein Plaza-Ticket erwerben und dann bei Sonnenuntergang über den Hafen gucken (und das mir neue, unglaublich hässliche „Frozen“-Musicaltheater ignorieren, das direkt neben dem zum „König der Löwen“ steht).

Wir gingen also nur rum, guckten runter, gingen wieder rein und betraten eine Stunde vor dem Konzert die schicke Treppe, die uns auf unsere Etage führte. Jedenfalls ging F. ganz bis oben zu Fuß, ich nahm irgendwann einen Fahrstuhl. Das wäre auch mein einziges Gemecker über die Innenarchitektur: wunderschöne Treppen, hell, groß, aber total seltsame Stufenbreiten, die sich auch dauernd ändern.

Im 13. Stock angekommen, bewunderten wir erneut die Aussicht und nahmen ein kleines Getränk zu uns. Der Saal selbst öffnete eine halbe Stunde vor Beginn, bis dahin genoss ich noch die vielen Blickachsen in die Stockwerke unter dem, in dem unser Saaleingang lag und fand alles schick. Wir meckern ja gerne über die Isarphilharmonie, die ein Behelfsbau ist, bis vielleicht irgendwann auch die CSU mal verstanden hat, dass für eine Stadt, die drei Orchester von Weltrang hat, auch ein dementsprechendes Haus ganz angemessen wäre. Bis dahin quetschen wir uns in ein zu kleines Foyer und über zu enge Treppen; auch deswegen mochte ich die Weite der Elbphilharmonie sehr gern.

Der Große Saal selbst sieht unhöflich ausgedrückt wie ein Wespennest aus: Das Orchester sitzt unten in der Mitte, das Publikum wabenförmig mehrere Ränge nach oben gestaffelt darum. Über die einzigartige Akustik wurde schon alles geschrieben, weswegen ich sehr gespannt war, sie selbst einmal zu hören.

Wir begannen mit dem Smetana, der freundlich an mir vorbeilief. Er fing mit zwei Harfen an, die glasklar durch den Saal schnitten. (Sie können übrigens mithören, während Sie lesen: Hier ist die Aufzeichnung.) Danach setzten die Bläser ein und ich war begeistert. Aber dann kamen die Streicher dazu – und ich war irritiert. Sie klangen, als ob sie unter einer Wachsschicht aufspielten und das änderte sich auch den ganzen Abend lang nicht. Ich hörte Holz- und Blechbläser so deutlich wie noch in keinem anderen Saal, aber die ganzen Saiteninstrumente erschienen mir seltsam gedämpft, wie eine einzige Masse, und damit meine ich nicht einen einheitlichen Orchesterklang, sondern undeutlich, unspezifisch. Ganz komisch.

Was mir auch auffiel: wie konzentriert der Klang beim Orchester blieb. Es fühlte sich für mich so an, als ob das Orchester in einer Blase sitzt oder einem Glaskubus: Ich sah alles, aber der Klang kam nur bis zu einer Wand und ich saß auf meinem Platz auf der anderen Seite dieser Wand. Es erreichte mich emotional so wenig wie in keinem anderen Saal. Und nach der Pause gab es Dvořáks 9. Sinfonie, eines meiner Lieblingsstücke, das ich quasi mitpfeifen kann und das mich gerne zu Tränen rührt. Hier zog es perfekt und seelenlos wie auf einer CD an mir vorbei. Ich verstehe diesen Saal noch nicht, möchte aber dringend noch einmal hin, um zu hören, wie ein anderes Programm auf einem anderen Platz klingt.

Und dann gerne mit einem anderen Publikum. F.s erste Bemerkung, als wir uns in der Pause wiedertrafen (wir saßen nicht zusammen, es hatte nur noch Einzelplätze gegeben): „Ich lästere nie wieder über das Münchner Publikum.“ Was uns so irritierte: dass ein Großteil der Zuschauer*innen vermutlich sonst nie in klassische Konzerte geht.

Nach dem Smetana kam Mozart, bei dem ich fast eingeschlafen wäre, hätte nicht der Violinist mich wachgehalten. Aber nach dem ersten Satz des Konzerts für Violine und Orchester Nr. 3 G-Dur KV 216 kam nicht die erwartete Stille, sondern – Applaus. In mehrsätzigen Werken wird zwischen den Sätzen nicht geklatscht, und die Stille gehört für mich zum Stück, das kurze Innehalten und Durchatmen, bevor es weitergeht. Aber die gab’s hier nicht, sondern es gab Applaus. Nach dem ersten Satz dachte ich noch, okay, man bedankt sich beim Solokünstler, aber als auch nach dem zweiten Satz geklatscht wurde, war ich nachhaltig irritiert. Vor allem von der Menge an Menschen, die anscheinend nicht wussten, dass man eben nicht klatscht. Beim Dvořák ging es blöderweise damit weiter, es gab Applaus, als ob man dafür was geschenkt bekäme, und nach dem dritten Satz, vor dem dramatischen Finale, wurde ich dann auch mal laut, zischte ein „Shhh!“ in die Runde und machte eine entsprechende Handbewegung (F. auch, wie er mir nachher erzählte). Der Dirigent hatte auch keine Lust mehr auf die Faxen, weswegen es nach dem dritten sehr schnell im vierten Satz weiterging, und das nehme ich den Nasen schon ein bisschen übel, dass ich den Satzanfang nicht vernünftig hören konnte, denn der ist großartig.

Wir fragten uns nach dem Konzert, woran das liegen könnte, und ich ahne, dass viele Menschen im Saal waren, die als Tourist*innen in Hamburg sind, wozu anscheinend heutzutage ein Besuch in der Elbphilharmonie gehört. Was ich ja großartig finde, dass Menschen mal so in Kontakt mit dieser Musik kommen. Aber vielleicht braucht es dann doch eine winzige Gebrauchsanweisung im Programmheft, das man netterweise umsonst bekommt. Denn woher soll man wissen, wie ein derartiges Konzert funktioniert, wenn man noch nie in einem war? Oder ich bin inzwischen eine alte Prusseliese, die halt zwischen den Sätzen ihre Ruhe will, kann auch sein.

(Edit nach einem Hinweis auf Masto: Die Elbphilharmonie-Website erklärt sogar das Klatschen.)

Nach dem Schlussapplaus deutete Dirigent Alan Gilbert mit seinen Händen übrigens zwei Nullen an und machte eine Fußballbewegung, das war mal ein hervorragender Service für alle Leute, die bei der Ticketbuchung nicht den EM-Spielplan im Kopf hatten.

Nach unserem Barbesuch hatten wir die lange Rolltreppe, die uns in die Elphi hineingebracht hatte, ganz für uns alleine, das war schön. Und ich höre jetzt weiter Martinů auf YouTube. Sagt mir Bescheid, wenn er mal wieder in der Elphi gegeben wird, dann muss ich ein Ticket kaufen.