Welches Menscherl hätten’S denn gern?
Es ist nichts Falsches daran, sich eine fiktive Biografie zuzulegen, es ist nicht schräg oder bescheuert oder „nicht normal“, sich in fremde Häute hineinzuträumen und ihr Leben zu leben, selbst wenn es nur fünf Minuten am Tag sind, die man als jemand anders zubringt.
(Jetzt kommt ein Satzanfang, den ich noch nie im Weblog verwendet habe:) Meine Therapeutin hat mal gesagt (so, das war’s, weitergehen), dass es ganz im Gegenteil eine sehr hilfreiche Maßnahme ist, um mit sich selbst klarzukommen. Wenn die reale Welt gerade mal zu schmerzhaft ist, ist es ein gesunder Fluchtinstinkt, da hinzugehen, wo es nicht wehtut und wo man sich sicher fühlt. Ich habe in der (heute abgeschlossenen) Therapie gelernt, mir einen Platz im Kopf zu schaffen, an den ich jederzeit gehen kann, einen Raum, den nur ich betreten kann und in dem mir nichts passieren kann. Diesen Raum hatte ich in der Pubertät nicht. Damals hatte ich stattdessen sechs erfundene Figuren um mich herum, die immer für mich da waren, wenn mir die Welt mal wieder über mein zartes Seelchen gewachsen war. Sobald ich mich an einen von ihn gewandt habe, war alles ein kleines bisschen besser. Und nach einem Gespräch mit ihm (es waren komischerweise alles Jungs) fühlte ich mich stark genug, um es wieder mit der wahren Welt aufzunehmen.
Alle sechs hatten elaborierte Biografien, ich habe sie gezeichnet, Briefe an sie geschrieben, mit ihnen über Songtexte gestritten, habe sie älter werden lassen, habe ihnen zum Geburtstag gratuliert, habe manche von ihnen nicht so gerne gehabt wie andere, habe sie erwachsen werden lassen und sie irgendwann gehen lassen, als es mir anscheinend auch ohne sie gut ging. Aber als ich in der Therapie meinen Raum schaffen sollte, war ganz plötzlich und ohne dass ich ihn gerufen hatte, einer von ihnen wieder da. Er ist immer noch bei mir und wartet in meinem Raum, in den ich netterweise schon viele Monate nicht mehr gehen musste. Aber ich weiß, er ist da. Und er ist ein Teil von mir.
Wenn ich damals schon die Möglichkeit gehabt hätte, ein Weblog zu führen – wer weiß, ob ich nicht auch für einen von ihnen eins geschrieben hätte? Wer weiß, ob ich mich selbst nicht auch in ihrer Welt so verloren hätte? Jeder muss mit seinem Schmerz so umgehen, wie er oder sie es für richtig hält. Solange man niemand anderem damit Kummer zufügt, spricht meiner kleinen Meinung nach überhaupt nichts dagegen, sich zu erfinden, andere zu erfinden, sich ein Leben zu erfinden. Ich hoffe, in ihrem Fall hat es ihr mehr gut getan als dass sie noch trauriger wurde. Ich wünsche Anne viel Kraft für ihren weiteren Weg.