Tagebuch 13. Februar – F”

„Die Präsentation ist jetzt Mittwoch.“
„Statt Donnerstag.“
„Ja.“
„Übermorgen.“
„Ja.“
„Wir haben noch nicht mal eine abgenickte Idee.“
„Aber noch zwei Tage Zeit. Stimmt euch doch auf kurzem Dienstweg ab, ja?“
(Raus. Alle.)

Zwei Wochen nicht gesungen, keine Texte gelernt, nölig gewesen, wegen irgendwas angefressen (ich weiß, was „irgendwas“ ist, aber ich stecke noch mitten im Irgendwas und kann es nur begrenzt ändern, was mich genauso anfrisst wie das Irgendwas), zwei Tage krank gewesen, noch nöliger geworden, kurz, einfach keine Lust gehabt, gute Laune vorzutäuschen und meiner Küche Musicals vorzusingen, in denen das Leben ach so wunderbar ist. Was es meistens ja auch ist, Luxusprobleme, weiß ich, und dann nölt man an sich rum, dass man nölig ist und sich Luxusprobleme vorwirft anstatt anzuerkennen, dass da eben was ist und es bitteschön ernstzunehmen.

tl;dr: zwei Wochen nicht gesungen.

Und so kam ich dann auch beim Unterricht an, zwei Wochen nicht gesungen, keine Texte gelernt, ich habe bestimmt alles vergessen und meine Stimme klingt wieder wie vor einem halben Jahr, und das wird alles ganz fürchterlich. Aber dann lag „Let’s face the music and dance“ auf dem Notenständer (“There may be teardrops to shed / So while there’s moonlight and music / And love and romance / Let’s face the music and dance“) und das ging ganz gut, eigentlich sogar ziemlich gut, und dann legte mir meine charmante und ewig gut gelaunte Lehrerin (wie macht sie das nur?) „I feel pretty“ aus der „West Side Story“ hin, das einen Tick höher ist als alles, was ich bisher gesungen habe, aber egal, wird ja eh fürchterlich, weil ich zwei Wochen nicht gesungen habe und keine Texte gelernt und alles vergessen, und dann singe ich einfach los, so wie seit 20 Jahren im Auto, wenn das Lied kommt oder zuhause, und plötzlich ist da eine Stimme, die ich schon ewig nicht mehr gehört habe, und sie ist gut gelaunt und fröhlich und pretty und witty und gay und ohne dass ich darüber nachdenke, singe ich das zweigestrichene E und dann das F noch hinterher, was ich sonst nur mit viel Krächzen und Kraft und lauter unschönem Zeug hinkriege, wenn überhaupt, und in meinem Kopf und meinem Herzen hört es sich an wie FUCK YEAH HALLELUJAH und ich stehe fett grinsend bei mir und in mir und einfach da und umarme den Notenständer.

Zwei Flaschen Wein mit HappySchnitzel und ihrer charmanten Begleitung im Ufer. My memory is blurry. Aber ich kann mich an die anstrengende Kleinkunst erinnern, die mir zuerst ganz gut gefiel („Heute abend sind für uns die Cellistin YX und der Diplompuppenspieler YZ da“) und dann eher doof wurde, als der Mann eine Gitarre rausholte, die einen String angezogen bekommen hatte. Mehr Wein und ein Kippchen vor der Tür.

Statt peinlicher SMSe schreibe ich überschwängliche Google+-Einträge und twittere, dass man die Welt mit gutem Wein retten kann. Ich ergänze um: singen. Singen rettet auch. Big time.

Tagebuch 11./12. Februar – MUC

Morgens ins Taxi geklettert, das mich zum Flughafen bringt. Das wirklich allererste Mal eine Fahrerin gehabt (hier könnte auch „ein Fahrer“ stehen, war aber eine Dame), die mich null volltextet nach „Wo soll’s denn hingehen“ und zum Schluss „Das wärn dann 18 Euro, guten Flug.“ Kein einziges Wort. Gerne wieder.

Mein übliches inneres Gequengele am Pier 2 im Terminal: „Sieben Mark für ein Fläschchen Wasser?“

Bordverpflegung der Lufthansa: Corny Erdbeer, Kaffee mit Milch und Zucker.

Hinter mir im Flieger jemand, der offensichtlich noch nie geflogen ist. Jedenfalls erzählt er seinen beiden Freunden genau, was er sieht, während sie ihm die Geräusche erklären und was so an Bord passiert. Ich kann mich nicht an meinen ersten Flug erinnern, aber ich hoffe, ich klang genau so wie er. Diese begeisterte Fassungslosigkeit, wenn man plötzlich die Welt, die man gewohnt ist, aus ganz anderer Perspektive sieht.

S-Bahn Flughafen München bis Marienplatz, dann umsteigen. Ich beschalle mich per iPhone anstatt zu lesen, wie immer auf der S-Bahn-Fahrt, die ich jedesmal genieße, weil sie sich anfühlt wie ein langsames Hochfahren der eigenen Betriebstemperatur. Vom Hamburger Alltag in die Münchener Ferien. Mit Musike. In der S-Bahn sitzt mir jemand gegenüber, der sich plötzlich die Ohren zuhält. Ich klicke die Lautstärke herunter, merke dann aber in der nächsten unterirdischen S-Bahn-Station, dass er das jedesmal macht, wenn wir unter die Erde fahren bzw. wieder nach oben. Druckausgleich von 30 Höhenmetern.

In München ist es wie immer gefühlt 20 Grad kälter als in Hamburg. Ich bin dankbar für meine dicke Bayernjacke, die ich ausnahmsweise (wie die letzten Tage in Hamburg) nicht nur anziehe, weil es arschkalt ist, sondern weil ich eine Karte für das Spiel FCB-Kaiserslautern habe. Am Marienplatz bekomme ich ein „Scheiß FC Bayern“ hinterhergezischt, was ich zwar aus Hamburg gewohnt bin, mich in München aber doch erstaunt. (Scheiß Sechziger.) (Klammer 2: Verstehe allmählich den rauen Umgangston von Fußballfans.)

Herr Probek, meine ewige Übernachtungsgelegenheit, lässt mich endlich mal dafür arbeiten, dass ich dauernd Hotelkosten spare. Ich trockne Geschirr ab, während er in 20 Minuten eine Lauchsuppe fabriziert. Die Zutat Hackfleisch überrascht mich bei dem Gericht zwar etwas, das Ergebnis kann aber sehr überzeugen. Der zweite Essensgast und Stadionbegleitung @abspann ist auch schon da. Am Tisch zwei Bayerntrikots, ein schwarzer Mann, gefräßiges Schlürfen in Eile, denn wir müssen losloslos.

Drei Paar Socken, gerade mal zwei Shirts (die dicke Jacke ist eine wirklich dicke Jacke, wie ich beim Spiel im Volksparkstadion feststellen durfte), zwei Paar Leggings, eine Jeans, Decke, die dicken Stadionschuhe und zum ersten Mal Zehenwärmer, die ein puscheliges Fußgefühl erzeugen.

In der U-Bahn zum Stadion die alte Dame, praktische Omaschuhe, Rock, violetter Mantel, graue Handtasche, gepflegt frisiert, Bayernschal.

2:0. Gomez, Müller. Bei jedem „Ping“ der Anzeigetafel, die uns über das Ergebnis in Stuttgart informiert, wird das Gelächter in der Arena lauter.

Ab Minuten 75 waren die Füße genauso kalt wie in Hamburg. Aber bis dahin eben puschelig. -10 Grad sind deutlich kälter als -5, aber: Keiner wirft mit Bier, alle brüllen für das richtige Team, die Sitze sind bequemer, und ich mag die Arena einfach sehr. Mit dem Abpfiff traben 69.000 Menschen den zwei U-Bahn-Gleisen entgegen, und das Gedrängele hält sich in Grenzen. Ich kriege sogar einen Sitzplatz und diskutiere mit Probek das Thema Piratenpartei aus. Wir vergessen, unsere Wette schriftlich niederzulegen, in wievielen Parlamenten die Partei in zehn Jahren wohl sitzen wird. Ich behaupte: in keinem, argumentiere mir das aber fast selber wieder weg. „Mir fehlt die Kompetenz, die Berufserfahrung als Politiker.“ – „Dafür haben sie ja noch zehn Jahre.“ – „Ähm. Richtig. TROTZDEM.“ Wetteverlieren aus Bockigkeit. Werde in zehn Jahren eventuell eine Kiste Astra kaufen müssen.

Sofa, Glühwein, Sportschau. Mal gucken, was die Konkurrenz so macht. Der blöde BVB schlägt das blöde Leverkusen. Immer noch Platz 2 in der Tabelle.

Abends ins Lindwurmstüberl, Fleisch essen und Bier trinken, danach weiteres Biertrinken auf dem Sofa und nebenbei erst das Sportstudio, dann arte laufen lassen (fürs Karma). Gesprächsthemen: Beziehungen, Emanzipation, Wagner, der Holocaust (kein Zusammenhang), eigene und fremde Lebensentwürfe, die Schnelllebigkeit und Erwartungshaltung der Moderne, Karriereplanungen, die Frau und der Mann so an sich so, und irgendwann ist es 3 Uhr morgens und das Bier alle. Schnell noch betrunken twittern.

Ich glaube, ich habe meine benutzten Abschminkpads auf dem Waschbecken liegengelassen. Sorry, Probek! Und danke fürs Wegräumen. (In diesem Zusammenhang: Jungswohnungen erkennt man am miesen Schminklicht.)

Frühstück. „Kaffee?“ – „Erstmal einen halben Liter Wasser, bitte.“ Probek hat Monchichi-Haare, und ich versichere ihm, dass Monchichis die total kerligen Holzfäller unter den Stofftieren sind.

S-Bahn-Fahrt. Sonne, blauester Blauhimmel, Glitzerschnee, der Shuffle schmeißt mir Beethovens Neunte auf die Ohren. Freude. System langsam wieder auf Alltag vorbereiten.

Bordverpflegung der Lufthansa: Milka Nussini, schwarzer Tee ohne alles.

Am Terminal 2 wartet der Kerl.
Zuhause.

Soundtrack meines Lebens, revisited

Der erste Eintrag zu diesem Thema ist fast auf den Tag genau fünf Jahre alt, den kann man noch mal aufwärmen. Shuffle anschmeißen und gnadenlos und ohne zu schummeln die Songs aufschreiben, die dein MP3-Player deiner Wahl ausspuckt:

Vorspann: Mozart, Vionlinsonate Nr. 27 in G-Dur (KV 379). Oder wenn ich bis Pop vorshuffele: Foo Fighers, Learn to fly. Ist beides ein guter Lebensanfang, würde ich sagen.

Aufwachen: Dunkelrote Rosen aus Gasparone. „Dunkelrote Rosen bring ich, schöne Frau.“ I like.

Verlieben: Schon wieder Mozart, diesmal ein Stück aus Don Giovanni, 2. Akt, 5. Szene: Don Giovanni, A Cenar Teco. Diese Oper ist nix für die Liebe, Pop ist allerdings auch nicht besser: Cutting Crew, I’ve been in love before.

Das erste Mal: Haha. Axel F., Harold Faltermeyer. Dazu fällt mir leider nichts ein.

Kampflied: Here comes the summer, The Undertones. YEAH, BABY!

Schluss machen: A little less conversation, Elvis vs. JXL. Das Ding höre ich sehr gerne beim Sport. Beim Schlussmachen eher selten. Aber ich mach auch selten Schluss.

Abschlussball: Lullabye, Billy Joel. Billy Joel geht immer. Zu allem.

Leben: The collection of Marie Claire, Daniel Lanois. So lang man nicht auf den Text achtet, ein gar hübsches Liedchen. Wenn man auf den Text hört, ist es wieder eins von den Arschlochliedern, wo Kerle wollen, dass Mädels sie lieben, ob sie nun wollen oder nicht. Grmpf. Will ich so gar nicht als Lebenslied haben.

Nervenzusammenbruch: I wish, Stevie Wonder. Äh. Nein.

Auto fahren: Cowboys & Kisses, Anastacia. Kann man sehr gut laut grölen, wenn man im Sommer über die Autobahn kachelt. (Ich will grad ne Zigarette. Und Sommer. Und ne Autobahn.)

Flashback: Habt Dank, ihr Lieben von Brabant aus Wagners Lohengrin. Ich flashbacke zu den zwei Lohengrins, die ich bisher in meinem Leben gesehen habe. Beide in Bayreuth (ich verlinke einfach mal den mit Schnucki).. Hach ja. Pop: Stark, Ich + Ich. Oh, das passt.

Wieder zusammen kommen: Breathe, Midge Ure. Passt auch.

Geburt des ersten Kindes: Un tal baccano in chiesa! aus Tosca. Solch ein Trubel in der Kirche würde gut zur Taufe passen. Pop: Eyesight to the blind aus Tommy von The Who. Äh.

Endkampf: I turn to you, Christina Aguilera. Perfekt. (Jetzt lasst mich doch mal in Ruhe meine Schnulzen hören!)

Todeszene: (Wo ist der Unterschied zu Endkampf?) Una parola..chiedi all’aura aus L’elisir d’amore von Donizetti. Pop: Kiss with a fist von Florence + The Machine. Den Song will ich nicht hören, wenn ich sterbe. Lieber Donizetti.

Beerdigungslied: I know him by heart, Vonda Shephard. Dass einen der alte Ally-McBeal-Soundtrack mal so in den Arsch beißen würde. Nein, ich möchte auf meiner Beerdigung kein Lied hören, in dem rumgejammert wird, dass ich irgendeinen Kerl nicht habe.

Abspann: Nun seid ihr wohl gerochen aus dem Weihnachtsoratorium von Bach. Ist das letzte Lied, passt also. Pop: When I’m gone von Eminem. Auf die Zwölf.

Wendelin Heideboden

Ehe ich meine Timeline und alle Menschen auf Facebook und Google+ weiter mit meinem neuen Lieblingswein belästige, kippe ich ihn einfach ins Blog:

Den „Heideboden“ von Wendelin (13% Alkohol) gibt es in weiß und rot – der weiße steht noch zuhause und wartet auf mich, den roten habe ich seit vorletzter Woche des Öfteren getrunken. Den 2009er genoss ich in charmanter Gesellschaft im trific und tippte danach in mein Flickr-Fresstagebuch:

„Ich bin eher die Weißwein- und Blubberzeugtrinkerin und kann mich mit Rotwein nur anfreunden, wenn er unstaubig ist. Der hier ist so was von unstaubig, dass es kaum unstaubiger geht. Die Nase war mir alter Filmvorführerin sofort sympathisch, denn er roch wie ein Streifen Zelluloid, der warm aus dem Projektor kommt. Dann hat man eine Kirschkugel im Mund und gaaanz hinten im Rachen räuchert ein bisschen Holz rum. Ich würde den Wein kapriziös nennen, und ich habe mich sofort in ihn verliebt.“

Den 2010er erstand ich bei meinem Lieblingsweinladen um die Ecke; er ist nicht ganz so außergewöhnlich, aber immer noch großartig. Zur Kirsche kommt hier eine dicke Handvoll schwarzsaftige Johannisbeeren, die ein bisschen Grün mitbringen. Auf das Holz im Rachen muss man sehr achten, sonst verpasst man es. Dafür bleibt das Gefühl zurück, einen sommerwarmen Marmeladenlöffel abgeleckt zu haben, der kurz in Grappa getaucht wurde.

So richtig rangetrunken an die Roten habe ich mich vor gefühlten Ewigkeiten, als Frau Lu hier war zwecks Foodcoaching (hier unsere erste Weinprobe, hier die zweite). Danach testete ich diverse Delinat-Weine, die auch meist irgendwie okay waren, aber es war kaum einer dabei, den ich öfter als einmal trinken wollte. Der einzige, vom dem ich eine Kiste nachbestellte, war der Château Coulon, der anscheinend ein Delinat-Klassiker ist, den alle im Schrank haben; so kam es mir jedenfalls bei den Qualitätsdegustationen vor, bei denen ich mehrmals war und wo meist blind verkostet wurde (was, nebenbei, einen Heidenspaß macht).

Nach der Weinprobe bei Vinoroma trank ich mich durch halb Italien, wobei ich mich auf Sardinien oder Sizilien am wohlsten fühlte. Bei Weißweinen war ich schon in Österreich angekommen; besonders der Gelbe Muskateller vom Pollerhof, den ich ebenfalls im trific kennengelernt hatte, war meinsmeinsmeins. Jetzt scheine ich mich auch in Rotweine aus dem Nachbarland verliebt zu haben. Soll mir sehr recht sein. Prost, Kinnings. (Noch sieben Stunden bis Feierabend.)

„My bathrobe had opened, revealing my legs, and I stared at my knee bones. “You’re never going to come back, are you?” I said. My lungs seemed to close up.
“You don’t have to be so dramatic,” he said. “I’ll see you. We can talk.”
“No,” I said.
“You won’t even have coffee with your old friend?”
I shook my head.
“I’m sorry,” he said. He closed the door very quietly behind him and never came back. I saw him, of course, from time to time – in the library, on the street – but because I went to great lengths to avoid him, our encounters were few. Stephen was out of my life, and yet I would carry around his ghost for months afterward – a beautiful, maddening creature that ate me alive.“

Siri Hustvedt, The Blindfold

Ich liebe, liebe, liebe ihre Sprache so sehr. So wenige Worte, so viel in ihnen versteckt, so präzise, so wunderschöne Zitate (never came back, I saw him), so wunderbare Rhythmen (in the library, on the street).

Und jetzt Hand aufs Herz: Wer hat beim vorherigen Eintrag vor seinem geistigen Auge zuerst einen dicken Menschen gesehen?

„Neulich, in der U-Bahn. Der Mann, der mir gegenübersaß, packte aus seinem Aktenkoffer eine Tüte mit Wurstsemmeln und begann zu fressen. Er biss riesige Brocken ab, die nicht ganz in sein Maul passten, obgleich es groß war. Wie ein Knebel hing das Zeug über den Lippen, Tomatenscheiben quollen zwischen der Wurst heraus und versauten sein Jackett. Er schnaufte schwer durch die Nase, grunzte, würgte den Brocken hinunter und rülpste. Soße lief ihm am Kinn herab.

Die Mundwinkel der Umsitzenden krümmten sich, dem vollen Abteil war jedes Gespräch vergangen. Nun fing der gar nicht dicke Mensch damit an, kleine Sunkisttüten zu leeren, per Strohhalm. Ohne vorher die Wurstsemmelmasse ganz geschluckt zu haben. Draus resultierte ein Geräusch zwischen dem Suppeschlürfen alter Weiber und der Weinkelter durch nackte Füße. Unruhe breitete sich aus. Mimik unverstellten Ekels. Ich war gespannt, wer das erste Wort werfen würde. Jeder sah ihn unverhohlen an und überlegte sich seine Form des Protests. Faszinierend. Welch ein Schauspiel! Diese aufgeblasenen Backen, aus denen es schmatzte und gluckerte und spritzte. Das hätte Deix nicht so malen können. Der Mann schob sich beidhändig Semmeln rein, als wolle er dran sterben, kaute und würgte, Schweißperlen rannen ihm von der Stirn, Tomatensaft und Butter glänzten auf seinen Fingern. Eine schwangere Frau schien kurz davor, sich übergeben zu müssen, dennoch starrte sie weiter hin, wie hypnotisiert. Das alles hätte die Szene noch nicht bedeutend gemacht. Erst später, während der dritten oder vierten Semmel – als das Räuspern und Murren im Abteil sich langsam artikulierte und Wörter formte wie „Frechheit“, „unglaublich“, oder vornehmer „stillos“, da zwang der Mann seinen gesamten Backeninhalt gewaltsam hinunter, rülpste nochmal und sagte, deutlich und mit einigem Selbstbewusstsein:

„I bin a Sau, damitsas wisst!“

Verlegene Stille.

Auf den Gesichtern der Leute war eine Art beruhigtes Schmunzeln zu erkennen, eine „Ach so!“-Reaktion, als wäre ihnen ein Behindertenausweis oder ein Attest vom Nervenarzt präsentiert worden.

Man muss den Leuten nur sagen, was los ist.

In aller Ruhe fraß der Mann weiter. Tief bewegt verließ ich den Zug.“

Helmut Krausser, Schweine und Elefanten

Lesung in Kiel

Wer sich für meine Lesung im Kieler Literaturhaus am 27. Februar anmelden will, kann das jetzt tun. Nähere Infos stehen wie immer auf der „Deern“-Website.

Auswärtsspiel: Hamburger SV – FC Bayern München 1:1

Seit Wochenanfang fielen die Temperaturen; am Samstag hatten sie zwischenzeitlich minus 9 Grad erreicht. Aber gegen sowas wurde ja der Zwiebellook erfunden. Als ich mich Samstag nachmittag einzwiebelte, musste ich allerdings fünf Minuten später die Wohnung verlassen, sonst wäre ich an Hitzschlag gestorben.

Nach dem letzten Stadionbesuch im November (FCB – Villarreal in der Allianz-Arena, die ich beharrlich mit Bindestrich schreibe) war mir klar: Ich brauche eine Winterjacke. Seit ich meine Kleidung selber kaufe und mir nicht mehr von Mama aufs Bett legen lasse, habe ich keine Winterjacke gehabt. Meistens beschränkte sich mein Winter auf die kurzen Wegstrecken von Auto zu Supermarkt/Arbeitsstelle/irgendwas, und diese wenigen Meter ließen sich auch mit Longsleeve, T-Shirt, Wollpulli und Hoodie bewältigen. Seit ungefähr einem Jahr fahre ich aber überhaupt kein Auto mehr, weswegen ich im letzten Winter (und in diesem nochmal, weil anscheinend abgenommen, ts) eine dickere Jacke kaufte. Endlich kein Schlumpfhoodie mehr, sondern irgendwas, das man so allgemein als „weiblich“ bezeichnet. Die neue Jacke reicht locker, um vom Bus zur Arbeitsstelle zu wandern, aber wie ich im November merkte, reicht sie überhaupt nicht, um bei knapp über null Grad zwei Stunden bewegungslos in einem Stadion zu sitzen. Deswegen ging ich einen Tag nach dem Spiel auf dem Weg zum Terminal 2/Flughafen MUC nochmal einkaufen und erwarb im Fanshop das hier. (Für Vereinsmitglieder gibt’s übrigens Rabatt.) Die Jacke ist zwar alles andere als das, was man so allgemein als „weiblich“ bezeichnet, aber dafür ist sie oh dear God so unglaublich warm. Was an Nicht-Spieltagen im Bus zur Arbeit eher doof ist, aber wie ich Samstag in der Imtech-Arena merkte, ganz, ganz großartig.

Unter der Jacke trug ich ein rotes Longsleeve, ein rotes Shirt und das Gomez-Trikot, unter meiner Jeans zwei Paar Leggings, in meinen gefütterten Schuhen steckten drei Paar Socken. Bayern-Schal um den Hals, Decke, Handschuhe und Mütze im Rucksack. Derartig ausstaffiert wankte ich zum Bus, der mich zur S-Bahn brachte, die mich wiederum mit vielen, vielen weiteren Michelinmännchen zur Arena chauffierte. Oder zumindest bis nach Stellingen, von wo man noch 15 Minuten Fußmarsch vor sich hat, wenn man den Shuttlebus nicht nutzen will. Was @derkutter und ich nicht wollten, weil wir uns vor dem zweistündigen Rumsitzen noch ein bisschen aufwärmen wollten.

Die S-Bahn-Fahrt fand ich schon sehr spaßig, denn mein Wagen war jeweils zur Hälfte mit rot- und blau gekleideten Menschen gefüllt, die sich gut gelaunt Schlachtengesänge um die Ohren brüllten. Die HSV-Fans hatten allerdings eine Killerline in petto, zu der den Bayern-Fans nichts mehr einfiel. Mir eh nicht, ich musste zu laut lachen.

„Hier – regiert – der HSV!“
„Wir hol’n die Meisterschaft … und den Pokal …“
„Ihr seid nur Norditaliener, ihr seid nur Norditaliener …“
„Deutscher Meister wird nur der FCB, nur der FCB, nur der FCB!“
„Wir – ham – ne – Bär-chen-dek-ke!“

Ein freundlicher Bayern-Fan fragte mich nach meiner Jacke, ein anderer meinte, er käme gerade aus dem Hofbräuhaus, wo man mit dem Fanclub in entspannter Runde TV-Übertragungen gucken könnte (Mitglied der Facebook-Gruppe bin ich immerhin, aber zum Fanclub-Beitritt hat es noch nicht gereicht) – also eine angenehme Hinfahrt.

Frau Pleitegeiger hatte mir freundlicherweise zwei Tickets besorgt; meine einzige Bitte war: möglichst nah am Gästeblock. Hat geklappt, wir saßen in 12B, wobei Herr Kutter als 96-Fan darauf bestand, den Sitz zu kriegen, der weiter weg von UNS war. Sein Glück, denn das Pärchen neben ihm gab das ganze Spiel lang keinen Mucks von sich. Sie trugen auch keine Schals und jubelten weder beim Tor für den HSV noch für UNSEREN Ausgleich, weswegen wir uns nach dem Spiel fragten, ob sie überhaupt irgendwem die Daumen gedrückt hatten oder einfach nur mal bei Minusgraden in einer Arena sitzen wollten.


(sorry für unscharf)

Die beiden Jungs auf meiner Seite waren dagegen eindeutig dem HSV zuzuordnen. Darunter mussten die beiden älteren Herren direkt vor uns ziemlich leiden, die als Bayern-Fans zu erkennen waren. Nach dem Führungstreffer für die ollen Hamburger brüllten die beiden Schlachtrufe in einer Tour, wobei sie sich immer schön weit nach vorne beugten, um den beiden Bayern-Fans quasi direkt in die Ohren zu schreien. Der genervten Bitte, das sein zu lassen, wurde nicht nachgekommen, aber immerhin gab es etwas, was die beiden kurz vom Brüllen ablenkte: Bier.

Der Typ neben mir balancierte schon beim Reinkommen Bratwurst und Bier so dusselig, dass meine schöne, schwarze Kuscheldecke erstmal mit Ketchup und Gerstensaft getauft wurde. Egal, kann man waschen, dachte ich noch. Der Typ war aber entweder so blöd oder er hatte schon vor dem Spiel getankt, dass er seinen vor sich auf den Boden abgestellten Bierbecher in schöner Regelmäßigkeit umstieß. Was zur Folge hatte, dass ich irgendwann meinen Rucksack zwischen die Knie klemmte, die Decke nicht mehr bis zum Boden hängen ließ und meine Füße es sich in einer Eispfütze aus Bier bequem machen mussten. (Zu diesem Zeitpunkt verfluchte ich meine Memmigkeit, nicht doch die Zehenwärmer ausprobiert zu haben, die ich als Weihnachtsgeschenk bekommen hatte.) Nebenwirkung des stets leeren Bierbechers: Honk musste sich alle zehn Minuten einen vollen organisieren. Das waren die einzigen Zeiten, in denen die Kerle in der Reihe vor mir Ruhe hatten, denn es dauerte netterweise immer so gut zehn Minuten, bis der Depp wieder da war, ein paar Schlucke trank, die Bayernfans anbrüllte, noch was trank, den Becher vor sich abstellte und ihn fünf Minuten später wieder umtrat.

Nach dem Ausgleich hatten die Herren vor uns immerhin Ruhe vor Honk, der aber inzwischen so blau war (oder eben über eine gewisse Grundbräsigkeit verfügte), dass er auch bei „Steht aaaauf, wenn ihr Bayern seid“ aufsprang und mitsang, was ihn mir wieder kurzfristig sympathisch machte. Überhaupt Gesänge: sehr schöne Stimmung in der Arena. Ich habe sowohl die HSV-Fans als auch UNS ordentlich laut gehört, und es war weitaus mehr los als in der Allianz-Arena, wo die Gesänge leider immer etwas verpuffen. Nach 75 Minuten taten allmählich die kalten Füße weh, aber ansonsten war mir mummelig warm. Tolle Jacke, tolle Decke, alles supi. Laut Anzeigentafel waren es minus 5 Grad in der Arena, also quasi total warm.

Ich war mir todsicher, dass WIR noch das 2:1 schießen würden, denn in der zweiten Halbzeit sah es für mich so aus, als hätten wir die deutlich bessern Karten. Lustigerweise sahen Pleitegeiger und Ned Fuller, mit denen ich mich nach dem Spiel noch traf, das ganz anders: Sie waren sich sicher, dass ihre Jungs noch den Heimsieg holten. Ist jetzt wurscht, hat ja beides nicht geklappt, wobei die HSV-Fans das lausige Unentschieden wie einen Sieg feierten und es sich für mich wie eine Niederlage anfühlte.

Die S-Bahn-Fahrt zurück war dann auch nicht so lustig wie die Hinfahrt. Wo ich auf der Hinfahrt im Bayernpulk stand, geriet ich diesmal in eine blau gekleidete Gruppe und wurde dann auch sofort gefragt, wie’s mir so ginge – „Geht, war ein spannendes Spiel, verdientes Unentschieden“ –, wo ich herkäme – „Hamburg“ –, und nach der Antwort, ob ich denn keinen Stolz hätte. Ich hätte zwar gerne gesagt, he, ich bin wenigstens nüchtern, und ich kann Bierbecher vor mir abstellen, ohne sie unkoordiniert umzutreten, und ich singe nur bei den Fangesängen mit, die zu meinem Verein gehören, aber ich war zu müde.

Immerhin waren meine Füße zu dem Zeitpunkt wieder warm. Und nächste Woche in der Allianz-Arena gewinnen wir, denn bis jetzt haben wir immer gewonnen, wenn ich in der Allianz-Arena saß. Nach dem 1:2 in Hannover und dem Unentschieden fühle ich mich jetzt allerdings wie Auswärtsgift. Vielleicht sollte ich mal zu ein paar Auswärtsspielen des BVB fahren.

Clash of the Schnuckis

Übermorgen spielt der FC Bayern beim HSV. Zu diesem Anlass hat Ned Frau Pleitegeiger und mir ein paar Fragen zu unseren Lieblingsspielern gestellt. Hier geht’s lang.

Interview bei Miss Bartoz

Miss Bartoz ist eine Website, auf der man sich als dicke Frau eine Menge guter Tipps abholen kann, was Styling angeht. Die Betreiberin der Seite hat ein kleines Interview mit mir über die „Deern“ und ihre Inhalte geführt. Hier kannst du es lesen.

Twitterlieblinge im Januar, Teil 2