Twitter-Lieblinge im Februar 2013

Tweet des Monats mit Anwärterschaft auf Tweet des Jahres:

Veranstaltungstipp für Kurzentschlossene

Eine kleine Erinnerung: Ich lese heute um 20 Uhr im Sonnensaal in Roßdorf aus der „Nudeldicken Deern“. Eintrittskarten gibt es für 10 Euro (ermäßigt 9) in der Bücherinsel. Kommt vorbei – es gibt Sekt, meine Unterschrift und garantiert keinen Fußball.

Les Misérables

Les Misérables, UK 2012, 158 min
Mit: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Eddie Redmayne, Amanda Seyfried, Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter, Aaron Tveit, Samantha Barks
Musik: Claude-Michel Schönberg
Kamera: Danny Cohen
Drehbuch: William Nicholson & Alain Boublil (Drehbuch); Alain Boublil (Libretto der Bühnenfassung) nach einem Roman von Victor Hugo
Regie: Tom Hooper

Trailer

Offizielle Seite

Räumen wir erstmal den Elefanten aus dem Raum: Ja, Anne Hathaways Version des totgehörten Schmachtfetzens „I dreamed a dream“ hat jeden Preis verdient, der irgendwo rumsteht. Ihre Nummer überstrahlt alles, was der Film sonst noch aufbietet, und oh dear God gibt er sich Mühe, ne Menge aufzubieten. Das klappt manchmal sehr gut, manchmal gar nicht, aber trotzdem: Alleine für die drei Minuten Hathaway lohnen sich auch die restlichen 155. Auch wenn sie gerade im dritten Akt sehr, sehr lang werden.

Die Geschichte liest sich bitte jeder in der Wikipedia durch, und ich gehe davon aus, dass viele, die diese Zeilen lesen, das Ding auch schon auf der Bühne gesehen haben. (Wenn nicht: WARUM NICHT?) Der Film hält sich sehr brav an die Musicalvorlage – warum auch an einer Erfolgsformel rumdrehen? Das Dumme ist nur: Auf der Bühne verzeiht man die übergroßen Gesten dann doch mal, denn die müssen schließlich auch noch in Reihe 35 ankommen. Auf der Bühne darf es von mir aus vor Pathos tropfen, und da mag ich es auch gerne, wenn die Damen und Herren mit der klassischen Musicalausbildung genauso klingen.

Im Film ist das anders, und genau deswegen hat mich Frau Hathaway so umgehauen. Dass die Lieder live am Set eingesungen wurden, dürfte auch schon jeder mitbekommen haben, und das rettet den Film meiner Meinung nach auch davor, komplett im oben erwähnen Pathos zu ertrinken, obwohl er von der Story her natürlich dafür prädestiniert ist (Liebe! Rache! Barrikaden! Tod! Revolution! Und noch mal Liebe! Ta-daaaa!) Das Live-Singen gibt den Schauspielern und Schauspielerinnen nämlich die Möglichkeit, ihre Songtexte wie Dialogzeilen zu behandeln und sie mit der gleichen Empathie von sich zu geben, wie sie es mit einem gesprochenen Text machen würden. Meine Gesangslehrerin hat immer einen guten Tipp parat, wenn ich – gerade bei solchen Krachern wie dem von Hathaway oder dem weiteren Les-Miz-Evergreen „On my own“ – mal wieder die großen Gesten auspacke und imaginär eine Showtreppe runterkomme: „Erzähl mir einfach, wie’s dir geht.“ Also eben nicht die Showtreppe runterkommen, wenn ich eine verliebte Frau im regnerischen Paris bin, die weiß, dass der Kerl, den sie liebt, eine andere toll findet. Stattdessen eben die verliebte Frau sein, die vor sich hinträumt, ganz leise, dann verzweifelt, weil sie weiß, dass sie ihn nie haben wird, und dann resigniert, weil sie es langsam einsieht. Wenn es einem so geht, kommt man keine Treppe runter, sondern umklammert vielleicht seine Knie, während man schlimme Musik hört und gleichzeitig – bei guter Körperbeherrschung – noch einen Becher Ben & Jerry’s erledigt oder wahlweise eine Flasche Wein. Aber da hat man keine großen Gesten drauf, sondern ist bei sich und sehr alleine. Und genau das kriegt Hathaway hin, die einsehen muss, dass ihr Traum von einem guten Leben aber sowas von an die Wand gefahren wurde (“Now life has killed the dream I dreamed”). Und das singt sie, als ob sie es der Weinflasche erzählen würde, nur mit so schmerzhafter Intensität, dass ich meinem Make-up schon nach zehn Sekunden „Auf Wiedersehen“ gesagt habe. Sie greift nie zu dieser typischen Musicalstimme, die natürlich weiß, wann die Noten kommen, die das Publikum endgültig rumkriegen. Das hat sie gar nicht nötig, denn sie hat dich eben nach zehn Sekunden.

Wie gut sie ist, lässt sich an „On my own“ messen, der Bravournummer von Éponine (Samantha Barks). Die Dame ist Musicalsängerin und keine Schauspielerin wie ihre vielen Kollegen und Kolleginnen am Set – und das killt diese Nummer. Denn sie macht genau das, was Hathaway nicht macht: singen, als ob sie auf einer Bühne steht. „On my own“ hat musikalisch einen ähnlichen Verlauf wie „I dreamed a dream“ – nach Einleitung, Strophe und Break kommt irgendwann der klassische Weg nach oben, die große Showstopper-Note … und dann der leise, in beiden Fällen verzweifelte Ausklang. Und was einem bei Hathaway das Herz bricht, entlockt einem bei Barks nur ein müdes Ochjo. Das kann allerdings auch an der Inszenierung liegen, und damit komme ich endlich mal zu den Bildern. Die sind nämlich gerade bei „On my own“ von einer nachlässigen Einfallslosigkeit, wie es banaler kaum geht. Bei der Liedzeile „Sometimes I walk alone at night / When everybody else is sleeping“ schlendert sie einsam über einen schäbigen, dunklen Platz (ach was) und natürlich regnet es, denn kurz darauf erklingt ja „In the rain / the pavement shines like silver“. Schnarch. Hathaway hat die ganze Leinwand für sich gehabt, wir sehen nur ihr Gesicht, das jede Regung des Songs bravourös widerspiegelt – und die arme Barks darf durch die üblichen Pariser Pappkulissen laufen wie so viele Schultheater-Éponines vor ihr. Das haben weder der Song noch sie verdient, auch wenn ich sie von allen Darstellern und Darstellerinnen am schwächsten fand.

Wer mich dagegen extrem positiv überrascht hat, war Russell Crowe. Im Trailer fällt seine Art zu singen, völlig raus, und nachdem ich die Ausschnitte gesehen hatte, wollte ich den Film kaum noch sehen. Gut, dass ich es trotzdem getan habe, denn der Mann ist großartig. Wie Hathaway spricht er singend, und jeder Satz hat mich überzeugt. Seine übliche grumpycatige Mimik tut ihr Übriges – Crowe ist ein wunderbarer Bösewicht und zwar einer, dem man seine Überzeugungen abnimmt anstatt sie auf das schablonenhafte Drehbuch zu schieben.

Aber auch er hat unter der Bebilderung zu leiden. Bei seiner ersten großen Nummer („Stars“) steht er allen Ernstes auf dem Dach (oder der Brüstung) einer Kirche, hinter sich Notre Dame, über sich der unheilvolle Mond, der durch die dunklen Wolken blitzt. Von den besungenen Sternen sieht man allerdings keinen, da hat die CGI-Abteilung anscheinend schon geschlafen. Er balanciert am Abgrund, vor dem er sich sicher fühlt, und dieses Bild wird bei seiner Reprise („Javert’s Suicide“) wieder aufgenommen. Das kam mir extrem schulmeisterlich vor, so nach dem Motto, vastehste, Einsicht, Umkehr, vastehste, vastehste, warte, ich zeig’s dir noch mal. Und ich gebe zu, ich musste laut lachen, als ich sah, dass selbst Notre Dame ihm jetzt ihren Rücken zuwendet, während er auf dem Brückengeländer balanciert. (Psst: Eigentlich ist es der Ostchor, aber das nur unter uns Kunstgeschichtsstudent_innen.)

Auch die restlichen Bilder können nicht so recht überzeugen. Schon die große Schiffsszene zu Beginn ist eher albern, und die Barrikade zum Schluss zwar eine schöne Reminiszenz an die Bühne, aber trotzdem sieht beides sehr nach Photoshop aus. Beide Sets wollen riesengroß sein, aber weil man weiß, dass Paris heute anders aussieht, ist das eher peinlich als bewegend, und man sucht die ganze Zeit nach Fehlpixeln oder dem Eiffelturm, den jemand vergessen hat wegzustempeln. Da hätten mir ein paar Close-ups auch gereicht. Aber auch da verlässt sich Regisseur Hooper manchmal nicht auf seine Akteure und Aktricen: Wenn sich Cosette (Amanda Seyfried) und Marius (Eddie Redmayne) das erste Mal zärtlich ansingen, dann braucht man, verdammt nochmal, nicht noch einen animierten Schmetter-fucking-ling, der an Cosettes Hand herumflattert, um ihre verspielte Jugend zu verdeutlichen. Und wenn die schauspielerischen und komödiantischen Schwergewichte Sacha Baron Cohen und Helena Bonham Carter als Ehepaar Thénardier die Szene betreten, dann wären sie auch ohne den kompletten Overkill an Props und Nebenhandlungen puppenlustig gewesen.

Les Misérables hat mir trotz aller Macken gefallen, denn was er hinkriegt, ist auch die Stärke der Bühnenfassung: trotz totalem Klischee mit großartigen Songs zu begeistern. Der Funke springt auch im Kino über, und man will genauso mitsingen wie im Plüschsessel eines Musicaltheaters. Am stärksten ist der Film in den Momenten, wo er seine Darsteller und Darstellerinnen einfach mal machen lässt, Hathaway leiden, Redmayne trauern, Jackman hoffen. Da ist der Film so groß wie seine Geschichte, und da passiert genau das, was bei guten Songs immer passiert: Man spürt Wahrheit, Hoffnung, Vertrauen. Und man schnauft tief durch und geht bewegt und erfüllt aus dem Theater oder dem Kino. Singend.

Avocado mit gegrillter Paprika und Büffelmozzarella

Das Rezept stammt aus der neuen essen & trinken und hat mich beim Durchblättern gleich gehabt. Beim Essen übrigens noch mehr. Die Mengenangaben sind wie immer bei mir und Salaten eher frei Schnauze. Ich wieg doch keine Pinienkerne ab.

Für zwei hungrige Esser_innen oder vier Vorspeisentellerchen.

2 rote Paprikaschoten vierteln, von Häutchen und Kernen befreien und mit der Hautseite nach oben auf ein Backblech legen. Etwas plattdrücken und unter dem Grill schön schwarz werden lassen. Aus bitterer Erfahrung weiß ich inzwischen, ja, die müssen richtig schwarz sein und Blasen werfen, sonst kriegt man die Haut nicht ab. Wenn sie aber schwarz sind und Blasen werfen, kann man die Haut danach wunderbar abziehen. Also: schwarz werden und Blasen werfen lassen, verdammt! Danach für ungefähr zehn Minuten (oder so lange, bis es eben dauert, die Dinger anfassen zu können) in einem verschlossenen Gefrierbeutel ausdämpfen lassen. In einigen Foren habe ich den Tipp gelesen, statt des Gefrierbeutels ein feuchtes Tuch auf die Schoten zu legen; damit habe ich mir aber nur ein schönes Küchentuch ruiniert, und die Schale ging weniger gut ab. Nach dem Hautabziehen die Paprika in mundgerechte Stückchen verwandeln.

Eine Handvoll Pinienkerne ohne Fett anrösten und abkühlen lassen.

2 Avocados halbieren, vom Kern befreien und in Spalten schneiden.

Avocado hübsch auf einem Teller drapieren. Pinienkerne und Paprika darüber und dazu

zerzupften Büffelmozzarella (das Rezept hätte gerne ungefähr 80 g),
frische Basilikumblätter,
ordentlich Olivenöl,
Salz und
Pfeffer.

Das Originalrezept wollte noch Limettensaft und -schale darüber haben; das habe ich mir gespart. Ich mag meine Avocado lieber ohne Säure.

Lesung in Roßdorf

Eine kleine Erinnerung an nächsten Mittwoch: Am 27. Februar lese ich um 20 Uhr im Sonnensaal in Roßdorf aus der „Nudeldicken Deern“. Eintrittskarten gibt es für 10 Euro (ermäßigt 9) in der Bücherinsel. Ich würde mich freuen, euch zu sehen und meine lange geübte Unterschrift in eure Bücher zu schreiben. Außerdem hörte ich, es gäbe Sekt – noch ein guter Grund, vorbeizukommen.

< quote >

„Alles in allem wurde dem Konsumenten von Kunst vermutlich noch nie derart viel abverlangt wie heute, da er aufgerufen ist, den künstlerischen Prozeß zu re-produzieren, in dem der Künstler (unter Mithilfe des gesamten intellektuellen Feldes) den neuen Fetisch geschaffen hat. Vermutlich wurde ihm aber auch noch nie derart viel wieder zurückgegeben: Der naive Exhibitionismus des „ostentativen Konsums“, der Distinktion in der primitiven Zurschaustellung eines Luxus sucht, über den er nur mangelhaft gebietet, ist ein Nichts gegenüber der einzigartigen Fähigkeit des „reinen Blicks“, dieser gleichsam schöpferischen Macht, die kraft radikaler, weil scheinbar den „Personen“ selbst immanenter Differenzen vom Gemeinen scheidet.

Ein Blick in Ortega y Gassets Werk läßt zur Genüge ermessen, in welchem Unfang die charismatische Begabungsideologie Bekräftigung zieht aus der modernen Kunst, die in seinen Augen „wesentlich volksfremd; mehr als das, … volksfeindlich (ist)“ sowie aus dem „merkwürdigen Effekt“, den diese hervorruft, indem sie das Publikum, die Masse, in zwei „gegensätzliche Gruppen“, in zwei „Kasten“ trennt: „die verstehen“ und „die nicht verstehen“. „Das schließt ein“, so fährt unser Autor fort, „daß die einen ein Aufnahmeorgan besitzen, das den anderen offenbar versagt ist; daß es sich um zwei Varietäten der Spezies Mensch handelt. Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit“. Und die Irritation, die sie bei der Masse hervorruft, die „nicht fähig ist, das Sakrament der Kunst zu empfangen“, schreibt er der Demütigung zu und dem „trübe(n) Bewußtsein von Unterlegenheit“, das diese „Kunst der Bevorrechtigten, des Nervenadels, der Instinktaristokratie“ bewirkt. „Anderthalb Jahrhundert lang hat das Volk behauptet, es sei die ganze Gesellschaft. Strawinskis Musik und Pirandellos Drama kommt eine soziologische Wirkungskraft zu, die es zwiengt, sich als das zu erkennen, was es ist, als „nichts als Volk“, als einen Baustein neben vielen im sozialen Verband, als träges Substrat des historischen Prozesses, als eine Nebensache im Kosmos des Geistes. Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen und ihre Mission begreifen: wenig sein und gegen viele kämpfen.“1

Und als überwältigender Beweis, daß die selbstlegitimatorische Einbildungskraft der happy few keine Grenzen kennt, sei auch noch Susanne Langer zitiert, die nach einhelliger Meinung als eine der „world most influential philosophers“ angesehen werden darf: „Früher war den Massen der Zugang zur Kunst verwehrt; Musik, Malerei, ja selbst Bücher waren ausschließlich den Reichen vorbehaltene Vergnügen. Man konnte davon ausgehen, daß die Armen, der „Vulgäre“, sich gleichermaßen daran ergötzen würden, wäre ihnen nur erst die Möglichkeit zu solchem Genuß gegeben. Heute jedoch, wo jeder lesen, Museen besuchen, ernste Musik zumindest im Radio hören kann, ist das Urteil der Massen darüber zu einer Realität geworden – aber auch sinnfällig, daß große Kunst kein unmittelbar sinnliches Vergnügen ist („a direct sensous pleasure“). Andernfalls müßte sie, wie Kuchen oder ein Cocktail, dem ungebildeten wie dem kultivierten Geschmack schmeicheln.“2

1 J. Ortega y Gasset, „Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst“, Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 230 ff.
2 Susanne K. Langer, „On Significance in Music“ in Aesthetics and the Arts, Herausgeber Lee A. Jacobus, New York, 1968, S. 182–212, hier 183.“

Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“, Frankfurt am Main, 1982, S. 60–62.

Ein vorurteilsfreies Dankeschön …

… an Dorothee, die mich mit Jane Austens Pride and Prejudice überraschte. Das folgende Geständnis wird mich zwar wahrscheinlich alle Sympathiepunkte der Kaltmamsell kosten, aber sei’s drum: Ich habe trotz Anglistikstudium noch nie etwas von Jane Austen gelesen. Das darf natürlich nicht so bleiben. Daher: Vielen Dank für das Geschenk, es war bitter nötig und ich habe mich sehr gefreut.

< quote >

„Es ist gleichgültig, ob ich hundert oder erst achtzig bin, ob ich seit vierzig, dreißig oder sechzig Jahren darüber nachdenke, was eigentlich passiert, wenn wir in diesen Zustand geraten, von dem wir sagen: Ich liebe. Selbst wenn ich mir weitere fünfzig Jahre den Kopf darüber zergrübelte, ich fände es nicht heraus. Ich weiß noch nicht einmal, ob Liebe einbricht oder ausbricht. Manchmal glaube ich, sie bricht in uns ein wie ein anderes Wesen, das uns monatelang, sogar jahrelang umlauert, bis wir irgendwann, von Erinnerungen oder Träumen heimgesucht, sehnsüchtig unsere Poren öffnen, durch die es in Sekunden eindringt und sich mit allem mischt, was unsere Haut umschließt.

Oder sie bricht ein wie ein Virus, das sich in uns einnistet und still verharrt, bis es uns eines Tages anfällig und wehrlos genug findet, um als heillose Krankheit auszubrechen. Ich kann mir aber auch vorstellen, daß sie von unserer Geburt an wie eine Gefangene in uns lebt. Nur manchmal gelingt es ihr, sich zu befreien und aus ihrem Gefängnis, das wir sind, auszubrechen. Wenn ich sie mir als ausgebrochene lebenslange Gefangene vorstelle, kann ich am ehesten verstehen, warum sie in den seltenen Augenblicken der Freiheit so tobt, warum sie uns so gnadenlos quält, uns in alle Verheißung stürzt und gleich darauf in alles Unglück, als wollte sie uns vorführen, was zu vergeben sie imstande wäre, wenn wir sie nur ließen, und welche Strafe wir verdienen, weil wir sie nicht herrschen lassen.“

Monika Maron, Animal triste

Die Hübschheit von Häusern

Eine meiner Einführungsvorlesungen im 1. Semester hieß „Kunstgeschichte I: 500 bis 1500“. Als der Kurs begann, war ich verwirrt – wieso sprachen wir über die karolingische Pfalzkapelle in Aachen und romanische Kirchen in Frankreich? Bis mir einfiel, ach ja, über Architektur sollte man als Kunsthistorikerin wahrscheinlich auch ein bisschen Bescheid wissen. Wochenlang sehnte ich mich nach Bildern, aber als sie dann endlich dran waren, wollte ich gar nicht mehr aus der Gotik weg. Die blöden Kirchenbauten hatten mein Herz komplett erobert, und seitdem gehe ich mit einem anderen Blick durch unsere Großstädte.

Eine unserer Dozentinnen meinte, wie sollten uns einfach mal vor ein Gebäude stellen und uns selbst erzählen, was wir sehen. Damit ging ich dem charmanten Begleiter des Öfteren auf die Nerven, wenn ich bei Schneesturm kurz vor einer Kirche innehalten musste, um mir selbst zu erzählen, dass ich eine Ädikula sehe und so Pseudomaßwerkfenster. Ich ging auch unbekannten Mitmenschen auf die Nerven, indem ich auf dem Weg zum Kino am Odeonsplatz aus der U-Bahn stieg, wie immer einen Blick in Richtung Residenz warf – und eines Tages wie vom Donner gerührt stehenblieb, denn OMG sieht die Residenz aus wie ein italienischer Renaissancepalast oder was? (Wie zum Beispiel der hier.) Was die Dame, die in mich reinlief, weil ich spontan stehenblieb, wahrscheinlich weniger interessiert hat. Vor einigen Tagen ließ ich meinen Bus an mir vorbeifahren, weil ich noch nicht fertig war, mir die Fassade des Hauses, das der Bushaltestelle gegenübersteht, selbst zu erzählen. Und überhaupt gucke ich inzwischen an jeder Bushaltestelle nicht mehr in mein iPhone, sondern an die Häuserwände gegenüber und um mich rum.

Beim Lernen für die Klausuren zur Kunstgeschichte und zur Romanik (das war mein zweiter Kurs: Romanische Skulptur in Frankreich) habe ich die Schönheit dessen, was ich gerade lerne, etwas aus den Augen verloren. Im Mittelpunkt stand da schlicht, mir Zeug zu merken, wo steht was und warum ist das toll. Erst als die Klausuren vorbei waren und ich meine ganzen ausgedruckten Bildchen in eine Mappe warf und das dicke Romanikbuch zuklappen wollte, habe ich gemerkt, wie sehr mich die ganzen Klötzchen faszinieren. Wie verliebt ich in die Skelettbauweise und das Strebewerk einer gotischen Kathedrale bin, wie filigran und schwebend die Bögen aussehen, die außen das Bauwerk zusammenhalten, wie zielgerichtet und übermenschlich hoch die Bögen, die innen das Dach spannen. Wie wunderschön das Licht durch die Fensterrose fällt (Abt Suger in St. Denis: „lux mirabilis et continua“). St. Denis ist die erste gotische Kirche und in ihr sieht man schon, wie sehr sie sich von den romanischen unterscheidet: in der Helligkeit. Die Menschheit hatte inzwischen gelernt, wie man Wände bauen kann, in denen sich große Fensterflächen befinden. Und dieses Licht, verbunden mit der Höhe der Kirchen und ihren nicht enden wollenden Säulen und Pfeilern, fasziniert mich bei jedem Bild. Amiens ist meine liebste Kathedrale, aber Reims liegt fast gleichauf in Sympathie.

Die meisten der Links im Artikel führen zu Mapping Gothic France, eine Website, dir mir gestern von Marguerite Joly empfohlen wurde, die sie ihrerseits bei @bethrharris gefunden hatte. Noch mal danke dafür, denn seitdem spaziere ich breit grinsend durch Frankreich und piepse wehmütig, wenn eine Fensterrose besonders hell leuchtet oder die Spitzbögen ganz besonders weit nach oben reichen.

Ein weiterer dummer Nebeneffekt, außer dem, dass ich überall rumstehe und Menschen in mich reinlaufen, ist, dass ich dringend nach Frankreich und Italien fahren will, um mir alles „in echt“ anzuschauen. Da falle ich wahrscheinlich auch nicht übermäßig auf, weil da überall Touristen und Touristinnen rumstehen, während jemand in sie reinläuft. Auf dem Wunschzettel stehen Autun, Vézelay, Florenz, Amiens, Straßburg … oder vielleicht doch erstmal nach Köln? Da hängt im Dom immerhin das Gero-Kreuz, in das ich mich auch verliebte und an dem ich den schrägen Begriff des „Viernageltypus“ lernte. Ich arbeite daran. Aber erstmal spaziere ich weiter virtuell durch ein paar Spitzbögen.

„Und, Anke, wie war so dein erstes Semester?“

Ich habe gelernt, dass es gar nicht schlimm ist, 20 Jahre älter zu sein als der Rest des Kurses, weil ich in so gut wie allen Kursen nicht die einzige meiner Altersklasse war – und in einigen Kursen gab es auch Vertreterinnen, die altersmäßig über mir lagen. Gasthörer und -hörerinnen gingen mir allerdings fast ausnahmslos auf den Keks, vor allem, wenn sie a) 70 Prozent aller Teilnehmenden ausmachten, b) sich mit genau diesen Prozent unterhielten und c) das direkt hinter mir, während ich versuchte, dem Dozenten zuzuhören. Trotzdem ahne ich, dass ich in 20 Jahren genau da sitzen werde wo jetzt meine Nervensägen sitzen und zwar in Germanistik- und Philosophieseminaren. Und dann erzähle ich auch allen, wie schön es 2025 in Florenz war.

Ich habe gelernt, wie entspannt ich bei Referaten, Protokollen und Klausuren bin. Ich kann vor Kunden reden, dann kann ich das auch vor Kommilitonen und Kommilitoninnen. Ich kann so ziemlich über alles schreiben, dann auch über Beethoven, den Sonatensatz und was E.T.A. Hoffmann Schlaues zum Trio Op. 70,2 sagt. Und ich löse freiwillig jedes Onlinequiz, das mir über den Weg läuft, dann ist der Schritt zur Klausur geistig auch nicht so groß. Ich war etwas nervös vor der ersten Klausur, weil ich ihre Form noch nicht kannte, die Art, wie gefragt wurde, aber das legte sich nach 30 Sekunden, und vor der zweiten war ich ziemlich tiefenentspannt. Außerdem bin ich, ganz genau wie vor 25 Jahren, immer noch viel zu früh fertig. In der Schule habe ich die Sechs-Stunden-Klausuren nach vier abgegeben, heute war ich mit der 30-Minuten-Klausur nach zehn durch.

Ich habe gelernt, dass die Generation der 20-Jährigen, die grad an der Uni sitzt, alles andere als doof und ungebildet ist. Manchmal ein bisschen verstrahlt, was Alltagsanforderungen angeht, aber wenn ich mir meine Twittertimeline angucke (auch meine eigene), ahne ich, dass das nie aufhört.

Ich habe gelernt, dass ich locker 90 Minuten lang jemandem zuhören kann, solange es hell und kühl genug ist. Falls das nicht der Fall ist und der Dozent dazu auch noch über relativ wenig Modulation verfügt, kann es sein, dass ich trotz allem Interesse am Stoff einschlafe. Aber nur kurz! Und nur einmal! (Wo wir grad dabei sein: Ich bin auch schon mal in der Oper eingeschlafen. Bei Wagner. Jetzt isses raus.)

Ich habe gelernt, wie vielfältig die Darstellungsmöglichkeiten eines menschlichen Gesichts sind und wie unterschiedlich die christliche Ikonografie sein kann. Ich habe meine Liebe zu Botticelli und Dürer vertieft und die zu van Eyck und Memling entdeckt. Ich wollte wegen der Renaissance studieren, aber als sie endlich in der Vorlesung dran war, wäre ich viel lieber in der Gotik geblieben. Ich weiß jetzt, dass die Romanik kein grober Klotz ist, sondern voll naiver Schönheit, dass die Gotik nicht nur riesengroß ist, sondern auch zart und filigran, dass sich Italien von den Niederländern doch noch ne Scheibe abschneiden kann und dass auch in Deutschland ganz hübsch gepinselt wurde.

Ich habe gelernt, Haydn und Mozart zu schätzen und stehe weiterhin fassungslos vor Beethoven. Ich kenne Septakkorde und weiß, dass die irgendwo hinwollen und finde Variationssätze toller als andere. Ich weiß jetzt, dass man auch im wissenschaftlichen Umgang mit Musik über Gefühle reden kann oder was Stücke mit einem machen. Ich weiß jetzt allerdings auch, wie mathematisch Musik ist, was sie mir einerseits unheimlich macht und andererseits total neugierig auf moderne Musik, denn die lässt sich ja von keinem Fach mehr was sagen.

Ich habe gelernt, dass mich alles interessiert, solange die richtige Person es mir erzählt. Ich habe im Vorlesungsverzeichnis fürs nächste Semester schon einige Kurse nach Dozent ausgesucht, weil mich der jeweilige Mensch und seine Vortragsweise so faszinieren, dass ich mir alles von ihm oder ihr anhören würde.

Ich habe gelernt, wie gerne ich lerne.

Die häufigste Frage, die ich von meinen Kollegen und Freundinnen in den letzten Monaten gehört habe, war: „Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?“

Und meine Antwort war nach einer Woche die gleiche wie jetzt nach vier Monaten: „Es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Nur noch viel toller.“

Ein sächsisches Dankeschön …

… an @zwanzigtausend, der mich mit einem Dresdner Heft überrascht hat, genauer gesagt, dem Heft zu „Wagner in Dresden“. Rienzi und der Tannhäuser wurden in Dresden uraufgeführt, Wagner war Hofkapellmeister in der Stadt und erlebte den Revolutionsfrühling 1848 in ihr mit. Das Heft befasst sich außerdem mit Minna Wagner, der „unterschätzten Frau an Wagners Seite“, und lässt Christian Thielemann sowie Georg Zeppenfeld und Christa Mayer zu Wort kommen, die ich beide sehr schätze und schon ein-, zweimal in Bayreuth hören durfte (Zeppenfeld zusätzlich in, genau, Dresden). Vielen Dank für das Geschenk, über das ich mich besonders freue, weil es zwei Zustellversuche gebraucht hat.

Ein performtes Dankeschön …

… an Susanne, die mir Marco Anelli: Portraits in the Presence of Marina Abramovic geschenkt hat. Das Buch ist während der Ausstellung/Performance The Artist is Present entstanden, über die ich hier schrieb, und zeigt Menschen, die Marina Abramović gegenübergesessen haben – inklusive ihrer „Sitzdauer“. Es hat mich überrascht, einige Menschen zu finden, die ihr mehrere Stunden gegenübergesessen haben, genau wie es mich überrascht hat, dass ihr Ex-Mann es gerade fünf Minuten ihr gegenüber ausgehalten hat. Ein sehr schlichtes Buch, das aber genauso beeindruckt wie der Film bzw. das Werk, auf denen es beruht. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr darüber gefreut. (Und noch mehr über die wunderschöne Widmung. Dafür noch ein Extra-Dankeschön.)

(Ach, ihr Schnuffis.)

Twitterlieblinge Januar 2013