Was schön war, Donnerstag, 9. November 2017 – Manuskript und Stolpersteine

Gestern saß ich den ganzen Tag am Schreibtisch, um meine Führung durch die Städtische Galerie Rosenheim zu finalisieren. Morgen, am 11. November, führe ich eine kleine Gruppe durch unsere Ausstellung Vermacht, verfallen, verdrängt. Kunst und Nationalsozialismus, die nur noch bis zum 19. November läuft, also schnell hin da!

Da ich noch nie eine Führung gemacht habe, musste ich erstmal überlegen, was ich so alles erzählen will. Die Gruppe, die sich führen lässt, besteht ausschließlich aus meinen Blogleser*innen, daher ahne ich, dass schon ein paar Grundkenntnisse da sind. Ich weiß aber auch, dass sich niemand Blogeinträge merkt, vor allem, wenn man sich nicht dauernd mit NS-Kunst auseinandersetzt. Deswegen werde ich vermutlich ein bisschen von dem wiederholen, was ich hier im Blog schon mal angerissen oder ausgeführt habe.

Ich hangelte mich am Raumplan und unserem Katalog entlang, um mir zu überlegen, zu welchen Werken ich explizit etwas sagen will und zu welchen nicht, an welchen Exponaten ich Dinge erklären möchte und welche ich der Gruppe überlasse, damit sie sich selbst damit beschäftigt. Heute werde ich das Dokument abschließen und dann morgen vermutlich mit einem dicken Spickzettel meine erste Führung machen. Ich freue mich auf meine Versuchskaninchen und hoffe, es wird gut.

Wer noch spontan Lust und Zeit hat, sich uns anzuschließen: Wir treffen uns um 13 Uhr vor der Galerie. Bitte meldet euch kurz bei mir per Mail oder Tweet, damit wir nicht 50 Leute werden.

Gestern war der Jahrestag der Novemberpogrome und einige Menschen in meiner Timeline posteten Bilder von Stolpersteinen, die sie geputzt hatten. Ein Blogeintrag von Madame Read on my dear zum Thema hat dazu eine sehr persönliche Meinung:

„Ich wünschte an jedem 9. November wäre es still, ich wünschte einmal nur wären wir mit unseren Toten allein, ich wünschte es gäbe keine Stolpersteinputzkolonnen, keine Spruchbänder, keine Aufrufe, keine Bilder der Namen mit den Namen der Toten, die sich nicht weigern können, die blank sein sollen, denn jetzt wird ihrer gedacht und das ist auch leichter, denn die Fragen nach dem Ring mit dem blauen Stein am Finger einer anderen Frau sind schwieriger.

An keinem Tag wie am 9. November wünschte ich mir, ich könnte die Steine mit Laub bedecken, sie davor bewahren wieder Ziel deutscher Sauberkeit und Gründlichkeit zu werden, aber ich habe schon vor vielen Jahren gelernt, dass die Enkel und Kinder der Toten nur stören im unbedingten Willen zu gedenken.“

Hier in München liegen keine Stolpersteine, weil unter anderem Charlotte Knobloch das nicht möchte; sie meint, durch die im Boden verlegten Namen werden die Opfer ein weiteres Mal mit Füßen getreten. Gunter Demnig, der Künstler, der die Stolpersteine verlegt, sagt hingegen, die Menschen verbeugten sich vor den Opfern, indem sie sich bücken, um die Steine zu entziffern. Ich persönlich halte die Stolpersteine für ein sehr gelungenes Mahnmal in vielen tausend Teilen, weil es Menschen fassbar macht, die mit der irrwitzigen Zahl von „sechs Millionen“ schlicht nicht erfassbar sind, weil es eigentlich unvorstellbar ist (und dann eben leider doch nicht). Es macht aus namenlosen Opfern Nachbarn. Soweit ich weiß, sind die Stolpersteine auch in der Bevölkerung akzeptiert und erscheinen mir sinnvoller als das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, in dem man prima schicke Selfies machen kann; Stolpersteine kann man nicht für Instagram verfremden oder damit posieren, man kann sie nur zeigen und damit genau das tun, was sie intendieren: sie zeigen, sie weisen auf etwas hin.

Der Blogeintrag hat mir aber wieder einmal klar gemacht, dass hier die Täter*innen(nachkommen) darüber entscheiden, wie der Opfer gedacht wird. Das ist im Prinzip genauso eklig wie Menschen, die anderen Menschen vorschreiben möchten, sich nicht so anzustellen, wenn ihnen Missbrauch widerfährt, ohne dass sie selbst wissen, wie sich ein solcher anfühlt. (Das Thema ist ja leider gerade wieder aktuell.) Bei den Stolpersteinen weiß ich immerhin, dass es auch genug Juden und Jüdinnen gibt, die diese Form des Gedenkens gutheißen, siehe den verlinken SZ-Artikel. Aber der Blogeintrag zeigt, dass es natürlich nicht alle sind, wie vermutlich nie irgendetwas von allen gleich beurteilt wird. Hey, wir diskutieren ernsthaft wieder darüber, ob man Nazis auf die Nase hauen darf. Gerade gestern kam mir die Absurdität dieser Debatte wieder hoch.

Ich habe keine schöne Abschlussbemerkung zu diesem Thema. Ich war nur wieder dankbar für einen Denkanstoß durch ein Blog. Wir, mich eingeschlossen, meckern ja gerne über das Internet und was für Nervensägen und Arschlöcher sich in ihm herumtreiben. An manchen Tagen ist es ganz nett zu merken, dass es eben auch andere Stimmen gibt. Auch wenn sie eine Meinung haben, an der ich mich seit gestern reibe.

Edit: In München gibt es doch Stolpersteine – auf Privatgrund. Dort greift das öffentliche Verbot nicht. Danke für den Hinweis!

Was schön war, Mittwoch, 8. November 2017 – Stabi

Am Vormittag ließ ich mich mit dem Bus in die Stabi chauffieren. Dort ging ich zunächst in den Lesesaal für Alte Handschriften, den ich nicht so gern mag, weil ich in ihm nie eine Steckdose finde. Das macht mich bei längeren Sitzungen immer nervös, dass mein Macbook sich irgendwann verabschiedet, weil der Akku nicht mehr so irre lang hält. Aber manches kriegt man eben nur in diesen Lesesaal, so wie ich gestern diverse Ausgaben von Westermanns Monatsheften, in denen ich mir Abbildungen von einem Maler anschauen wollte, der zur NS-Zeit dort veröffentlichte. Ich blätterte durch die Jahrgänge 1935 bis 1939, fand spannende Bilder und noch spannendere Texte, die so gar nicht in die Zeit passen wollten. Ich lasse die Details hier mal sein, aber ich tippte recht viel in mein Stoffsammlungsdokument.

Nach zwei Stunden gab ich die Zeitschriften zurück und ging in den Allgemeinen Lesesaal. Dort stellte ich fest, dass man seine Bücher nicht mehr vom Regal zur Ausleihe tragen musste, damit sie dort verbucht werden, sondern sie liegen schon verbucht – mit rotem Stempel und Rückgabedatum – im Regal; man kann sie gleich an seinen Arbeitsplatz tragen. Wieder ein menschlicher Kontakt weniger, aber eigentlich sehr sinnvoll.

Ich hatte mir drei Kataloge zurücklegen lassen, von denen ich zwei nicht im ZI gefunden hatte. Die las ich genauso interessiert durch wie eben die Quelltexte – und stellte bei einer Autorin eine äußerst auffällige Textgleichheit fest. Schatz, wenn du schon Textinhalte übernimmst, die dir offensichtlich peinlich sind, weil sie 1935 entstanden sind, dann stell die Sätze doch wenigstens so um, dass man es nicht sofort merkt. Ich rollte mit den Augen und wollte ernsthaft das entsprechende Emoji in mein Dokument einfügen, bis mir einfiel, das Word keine Emojis verarbeiten kann.

Nach weiteren zwei Stunden legte ich die Kataloge zufrieden wieder in mein Regalfach und holte mir im Erdgeschoss noch ein letztes Buch von der Ausleihe, das ich mit nach Hause nehmen darf. (Immerhin eins.)

Das war eine sehr ertragreiche Sitzung. Ich befinde mich noch komplett am Anfang meines Rumlesens – ich habe eine Ahnung, wohin ich will, aber momentan sammele ich erstmal alles, was mir auffällt. Einer meiner Lieblingstweets stammt von @fischblog, ich zitiere: „Ich hab mal geschrieben, wenn man beim Recherchieren nicht ein, zwei mal seine Ansicht ändert, recherchiert man möglicherweise schlecht.“ Das geht in die gleiche Richtung wie die Aussage einer der Dozenten von F.: „If you know what you’re doing more than half of the time, it’s not research.“ (Dazu schrieb ich mal etwas ausführlicher.)

Ich erinnere mich, wie es mir am Anfang mit Lüpertz und Kiefer und den mir so unendlich lang scheinenden 20 Wochen Bearbeitungszeit für die Masterarbeit ging: Ich fing gefühlt in Trippelschritten an, las hier ein Stündchen und dort ein anderes, blätterte gefühlt sinnlos alles durch, was vor mir im Regal stand, guckte mir irgendwelche Quellen an, weil sie halt da waren und wusste wochenlang nicht, wo ich eigentlich hinwollte. Ich hatte schlicht noch zu wenig gelesen und gesehen, um eine konkrete Frage zu entwickeln. So geht es mir jetzt auch gerade, und natürlich schüchtert mich die nicht vorhandene Deadline für die Abgabe der Dissertation sehr ein. Ich brauche ein Ziel, auf das ich hinlese bzw. einen Termin, an dem ich weiß, ich muss irgendwas abliefern. Das muss ich mir jetzt selbst setzen bzw. den muss ich mir jetzt selbst machen. Momentan ist mein Kopf eher in der Werbung und der Akquise, aber seit gestern blubbern die ersten Fragen im Hinterkopf herum, was mich sehr freut. Ich weiß, dass ich diese noch achtzigmal umformulieren werde und vermutlich wird am Ende etwas ganz anderes auf dem Deckblatt stehen als das, was ich gerade im Kopf habe, aber es hat sich sehr gut angefühlt, wieder dieses Kribbeln im Nacken zu haben, wenn man etwas liest oder entdeckt, das nicht so ganz mit dem bisherigen Forschungsstand übereinstimmt und wo man entsprechend elegant ansetzen kann.

Ich habe auch immer meinen Doktorvater im Kopf mit seinen Abschiedsworten im Rosenheim-Seminar: „Wenn Sie aus diesem Seminar gehen und das Gefühl haben, alles anzweifeln zu müssen, dann ist das richtig.“ Auch dazu gab es gestern einen passenden Tweet: „Great mentors don’t tell you what to think. They teach you how to think.“

Mein Fahrrad vom Schrauber geholt, der mir zum wiederholten Mal sagte, dass ich wirklich ein schönes Fahrrad besäße. Danke – ich weiß. Ich fahre das sehr gern. (Das hier ist ein recht ähnliches Modell.)

Zuhause spontane Suppenlust verspürt und deswegen Lauch, Zwiebeln und Kartoffeln mit Brühe, Wein und Sahne – und einem Sieb – in eine feine Creme verwandelt. Ich werfe ja gerne noch Zeug zur Deko auf Suppen drauf, und gestern fiel mir ein halbes Döschen Mais im Kühlschrank ein, das gerne wegwollte. (Überbleibsel von extrem ungelungenen Maispfannkuchen.) Nur Mais war mir aber zu langweilig, aber ich hatte ja noch den schönen Koriander von vorgestern, also bastelte ich mit viel Chili und ein bisschen Öl eine kleine Salsa. Das war eine recht ungewohnte Kombi von süßlicher Schärfe mit bodenständiger Klassik, aber es schmeckte unerwartet gut.

Was schön war, Dienstag, 7. November 2017 – Lesen

Morgens fuhr ich mein aus unerfindlichen Gründen quietschendes Fahrrad zum Schrauber, der ihm das Quietschen austreiben soll. Dabei wurde ich von einem Autofahrer angemault, gefälligst den Radweg zu benutzen – ironischerweise fast direkt an einem Warnschild, das dort seit gefühlt zwei Jahren steht: „Radwegschäden.“ Der Radweg ist auch nicht mit einem der blauen Schilder bezeichnet, das heißt, es besteht eh keine Benutzungspflicht. Vielleicht könnte man im theoretischen Unterricht für den Führerschein die Neulinge darauf hinweisen, dass Radler*innen sehr oft völlig regelkonform auf der Straße fahren dürfen.

Bisher war ich eine Verfechterin von Radstreifen, also nur durch eine Linie abgetrennte Wege auf der Straße. Da die aber gerne zugeparkt werden, würde ich mich inzwischen über mit Pollern abgetrennte Wege freuen. Sieht scheiße aus, scheint aber nicht anders zu gehen.

(Ach, was reg ich mich auf.)

Nach tränenreichem Abschied vom Fahrrad – hey, ich sehe es jetzt 24 Stunden lang nicht – kletterte ich in Tram (TRAMFAHREN!) und Bus, um wieder nach Hause zu kommen, wobei ich noch ein paar Besorgungen erledigte. Unter anderem frischen Koriander, nur um dann zuhause festzustellen, dass die Avocado natürlich vergammelt war, zu der ich die Kräuter werfen wollte. Mistviecher.

In den irrwitzig kurzen Strecken, die man in München zurücklegt (München = Dorf), komme ich meist nicht mehr zum konzentrierten Lesen, aber immerhin, während ich an Haltestellen rumstehe. Gestern begann ich mein neues Buch Empire of Cotton, das ich bereits vor Monaten mal auf Deutsch aus der Stabi entliehen hatte. Die Übersetzung kam mir aber irre schnarchig vor, weswegen ich jetzt einen neuen Versuch starte und das englische Original lese. Mit derart plastischen Einleitungen kriegt man mich ja sofort:

„Today, cotton ist so ubiquitous that it is hard to see it for what it is: one of mankind’s greatest achievements. As you read this sentence, chances are you are wearing something woven from cotton. And it is just als likely that you have never plucked a cotton boll from its stem, seen a wispy strand of raw cotton fiber, or heard the deafening noise of a spinning mule and a power loom. Cotton is as familiar as it is unknown. We take its perpetual presence for granted. We wear it close to our skin. We sleep under it. We swaddle our newborns in it. Cotton is in the banknotes we use, the coffee filters that help us awaken in den morning, the vegetable oil we use for cooking, the soap we wash with, and the gunpowder that fights our wars (indeed, Alfred Nobel won a British patent for his invention of „guncotton“). Cotton is even a component of the book you hold in your hands. […]

Take a moment and imagine, if you can, a world without cotton. You wake up in the morning on a bed covered in fur or straw. You dress in woolens or, depending on the climate and your wealth, in linens or even silks. Because it is hard to wash your clothes, and because they are expensive or, if you make your own, labor-intensive, you change them irregularly. They smell and scratch. They are largely monochromatic, since, unlike cottons, wool and other natural fibers do not take colors very well. And you are surrounded by sheep: it would take approximately 7 billion sheep to produce a quantity of wool equivalent to the world’s current cotton crop. Those 7 billion sheep would need 700 million hectares of land for grazing, about 1.6 times the surface area of today’s European Union.“

(Sven Beckert: Empire of Cotton. A New History of Global Capitalism, London 2015, S. xii/xiii.)

Einer meiner Geschichtsdozenten, auf dessen Buchtipps ich immer viel gegeben habe, hatte uns das Werk als eine hervorragende Darstellung des 19. Jahrhunderts empfohlen. Ich musste auch an dieses Buch denken, als ich folgende Stelle in The Underground Railroad las, in der die Sklavin Cora, die bisher auf einer Baumwollplantage arbeiten musste, nach ihrer Flucht ihr erstes Kleidungsstück aus diesem Rohstoff trägt:

„Sam went upstairs and returned with clothes and a small barrel of water. “You need to wash up,” he said. “I intend that in the kindest way.” He sat on the stairs to give them privacy. Caesar bid Cora to wash up first, and joined Sam. […] Cora started with her face. She was dirty, she smelled, and when she wrung the cloth, dark water spilled out. The new clothes were not stiff negro cloth but a cotton so supple it made her body feel clean, as if she had actually scrubbed with soap. The dress was simple, light blue with plain lines, like nothing she had worn before. Cotton went in one way, came out another.“

(Colson Whitehead: The Underground Railroad, London 2017, S. 109.)

Zum Frühstück hätte ich gerne meine Zeitung gelesen, aber die war mal wieder nicht im Briefkasten. In der letzten Woche klickte ich auf der FAZ-Seite bereits an zwei Tagen auf die Schaltfläche „Zustellreklamation“, nach der ein Drop-Down-Menü folgt, bei dem man angeben kann, ob die Zeitung gar nicht oder verspätet kam oder sonst irgendwas. Gestern bei meiner dritten Reklamation folgte nach dem ersten Klick stattdessen die Aufforderung, sich telefonisch mit dem Aboservice in Verbindung zu setzen, gerne auch mit Rückrufservice. Quatsch, die paar Cent habe ich noch. Angerufen, brav ein Telefonmenü mit Sprachanweisungenn durchgespielt und sofort eine Mitarbeiterin drangehabt. Die Dame hörte sich meine winzige Beschwerde an und schenkte mir dann die drei verspäteten Ausgaben. Dankeschön!

Die Bundesliga hat alle Spiele bis Ende Februar terminiert. Das ist mir in dieser Saison noch wichtiger als sonst, weil mein Mit-Dauerkarteninhaber seine Stadionbesuche nach seinem beruflichen Terminkalender ausrichtet und ich daher von ihm Vorschläge bekomme, wann ich die Karte haben könne. Gestern sah ich, dass das FCA-Auswärtsspiel in Leipzig an einem Freitagabend war, woraufhin ich F. per DM fragte, ob man daraus vielleicht ein nettes Leipzigwochenende machen könne.

Gleich vier Wagner-Karten, um genau zu sein. Der Herr möchte sich mal RICHTIG Wagner geben, um meine Faszination zu verstehen. Ich bin sehr gespannt auf seine Reaktion. (Vermutlich redet er danach nicht mehr mit mir.)

Abends noch ein paar Folgen Outlander geguckt, wobei ich nicht weiß, ob ich die zweite Staffel auch noch sehen will. Die Story fesselt mich dann doch nicht genug, aber ich gucke mir irre gerne die Kostüme und vor allem die Landschaft der Highlands an. Wenn diese Serie nicht von Scotland Tourism mitfinanziert wurde, weiß ich auch nicht.

Was schön war, Montag, 6. November 2017 – Überraschung

Während morgens mein Kaffee durchläuft oder in der French Press vor sich hin… äh …sitzt und Aroma abgibt, räume ich mein Abwaschgestell leer, das ich jeden Abend zuballere. Ich drücke mich gerne um Staubsaugen und Fensterputzen, aber Abwaschen muss jeden Tag sein. Samstags bin ich manchmal nachlässig mit mir selber und wasche dann halt Sonntag Zeug von zwei Tagen ab, aber sonst räume ich jeden Abend die Küche so auf, dass man morgens sofort mit dem Kochen oder dem Zubereiten von Speisen anfangen kann, ohne zunächst die Spüle leerräumen zu müssen. Wie ich auch meinen Schreibtisch jeden Abend leerräume bzw. aufräume, um am nächsten Morgen frisch ans Werk gehen zu können, ohne das Gefühl zu haben, erstmal Ordnung schaffen zu müssen.

Ich hatte am Samstag Risotto gemacht und mit F. gemeinsam gegessen, wir hatten ein nettes Fläschchen Wein, und nach dem seltsamerweise stets anstrengenden Fußballnachmittag (man sitzt ja nur rum, aber ich bin danach immer müde) und dem schönen Abend zu zweit wollte ich bloß noch ins Bett und ließ daher den Abwasch stehen. Sonntag war ich kochfaul und ernährte mich von Jogurt, belegten Broten und Schokolade. Abends erledigte ich dann brav den Abwasch, denn auch bei belegten Broten fällt schließlich was an. Und Montag morgen wollte ich dann das saubere Geschirr verräumen, darunter auch die Suppenkelle, die ich für das Risotto gebraucht hatte. Die liegt in meiner Allzweckschublade neben Dingen wie Pürierstab, Kartoffelstampfer, Teigschaber, Korkenzieher etc. Also größeres Zeug, das nicht in meine beiden Vasen passt, in denen ich kleineres Werkzeug aufbewahre und die direkt an meiner Arbeitsfläche stehen: in einer Vase die kleinen Billoküchenmesser (die drei großen liegen brav alleine in ihren Schachteln, damit die Klingen nirgends gegendengeln), in der zweiten Pfannenwender und Kochlöffel aus Holz sowie meine geliebte Microplane-Reibe und eine Küchenschere. Das Zeug brauche ich dauernd, den Kram in der Schublade nicht. Ich zog also die Schublade auf – und sah folgendes:

Der kleine Racker hatte irgendwann Samstag abends noch eine dritte Reisetoblerone bei mir gelassen und sich, laut DM von gestern, schon gewundert, dass ich die noch nicht gefunden hatte. Da wäscht man EINMAL nicht gleich ab!

Ich war den ganzen Tag sehr gerührt. (Und muss bis Weihnachten keine Schokolade mehr kaufen. Okay, bis Anfang Dezember.)

Den Tag verbrachte ich zunächst mit dem Blogeintrag von gestern, der dann doch erstaunliche vier Stunden dauerte. Ich hatte ihn inhaltlich schon Sonntagabend im Kopf, war aber schreibfaul und dachte so launig, ach, schreibste morgens schnell runter. Ist klar.

Danach war wieder Schreibtischarbeit angesagt, zwischendurch holte ich die Sonntagsserien nach (Bob’s Burgers, The Last Man on Earth), dann gab’s eine Riesenportion Guacamole und ich ärgerte mich wieder darüber, dass ich keine Korianderplantage auf meiner Fensterbank habe, ich las Zeitung, und abends versackte ich vor Outlander. Ich wollte irgendwas Schnuffeliges gucken und Netflix spuckte mir eben Outlander aus bei „romantischen Serien“ oder wie auch immer die Kategorie heißt. Och jo. Das ließ sich nett nebenbei weggucken.

Gelesen: „The Underground Railroad“

Ich habe den kompletten Sonntag auf meinem Sofa verbracht, um das Buch durchzulesen, das ich am Samstag begonnen hatte: The Underground Railroad von Colson Whitehead, hier der Link zur deutschen Fassung, Übersetzung von Nikolaus Stingl. Nach dem Reinlesen in die deutsche Leseprobe glaube ich, dass die Übersetzung gut gelungen ist, denn was mir am Roman fast am besten gefallen hat, war seine unromanhafte Sprache, er liest sich fast dokumentarisch. Das ist allerdings auch genau die fiese Falle, in die man als Leserin tappt – man meint, historische Fakten mit einer Romanhandlung ummantelt zu lesen, was größtenteils falsch ist. Aber das hat mir noch vor der Sprache am besten gefallen.

Ich interessiere mich schon recht lange für den Amerikanischen Bürgerkrieg bzw. seine Vorgeschichte sowie die Zeit danach (Reconstruction). Neben Machwerken wie Vom Winde verweht, das ich mit 13 erstmals las und damit ein richtig schön falsches Bild der Südstaaten vermittelt bekam, habe ich aber, soweit ich mich erinnere, keinen Roman über diese Zeit gelesen, auch Onkel Toms Hütte nicht. Stattdessen las ich ausgezeichnete Werke wie James McPhersons Battle Cry of Freedom: The Civil War Era (hier auf deutsch), das ich schon hundertmal in diesem Blog empfohlen habe und ich höre auch nicht auf damit, sowie Eric Foners Reconstruction: America’s Unfinished Revolution, 1863-1877 oder Slavery By Another Name: The Re-Enslavement of Black Americans from the Civil War to World War II von Douglas Blackmon, das sich mit den Langzeitfolgen des Krieges beschäftigt. Daher wusste ich, dass die Underground Railroad nicht wirklich eine Bahnstrecke ist, sondern ein Netzwerk aus Menschen und Wegen, die geflohene Sklaven in den vermeintlich sicheren Norden brachten. „Vermeintlich“ wegen der Fugitive Slave Laws, die Sklaven nicht automatisch zu freien Menschen werden ließen, sobald sie die Südstaaten hinter sich gelassen hatten. Der Roman tut nun aber so, als ob die Underground Railroad genau das ist, wonach es klingt: eine unterirdische Bahnstrecke, von Unbekannten in die Felsen und in den Grund geschlagen, auf der Züge verkehren, die Sklaven und Sklavinnen schnell über weite Strecken transportieren.

Ich habe mich recht lange während des Lesens gefragt, warum Whitehead zu diesem Kniff gegriffen hat. Ohne jetzt groß Rezensionen gegoogelt zu haben, glaube ich, dass diese Möglichkeit des weiten Reisens (wenn man eine Flucht als Reise bezeichnen will) ihm schlicht die Möglichkeit gab, mehrere Staaten der USA und der späteren Konföderierten zu beschreiben bzw. ihre jeweilige Auffassung von Recht und Gesetz, dem Umgang mit der schwarzen Bevölkerung und der eigenen Geschichte. Teils fiktiv, teils immerhin historisch inspiriert. (Zum Beispiel das Kapitel zu Indiana.)

Die Sklavin Cora ist die Figur, der wir hauptsächlich folgen, aber wir erfahren in kleinen Einzelkapiteln auch Hintergrund zu anderen, zum Beispiel zum slave catcher Ridgeway. Dessen Vater war Schmied und sein Gehilfe, ein amerikanischer Ureinwohner, erzählte gerne vom great spirit, in dessen Namen nun auch der Vater arbeitete. Der Sohn schlug eine andere Karriere ein. Das Buch klingt streckenweise so, oft einen historischen Fakt (die Maßlosigkeit der Menschenjäger) mit einer deskriptiven und doch evokativen Sprache verbindend:

„Ridgeway gathered renown with his facility for ensuring that property remained property. When a runaway took off down an alley, he knew where the man was headed. The direction and aim. His trick: Don’t speculate where the slave is headed next. Concentrate instead on the idea that he is running away from you. Not from a cruel master, or the vast agency of bondage, but you specifically. It worked again and again, his own iron fact, in alleys and pine barrens and swamps. He finally left his father behind, and the burden of that man’s philosophy. Ridgeway was not working the spirit. He was not the smith, rendering order. Not the hammer. Not the anvil. He was the heat.“ (S. 96)

Das nächste Zitat hat mir besonders gefallen, was vermutlich am Gegenstand liegt, der hier beschrieben wird. Gleichzeitig schwingen zwei Dinge mit: dass Cora als Nicht-Mehr-Sklavin inzwischen lesen gelernt hat und dass ihr inzwischen Dinge gehören. Vieles, was sich ändert, wird so fast nebenbei abgehandelt; das Buch macht kein großes moralisches Fass auf. Das muss es gar nicht, die Diskussion um Sklaverei verbietet schlicht mehr als eine Seite oder Meinung. Aber wieviel sich ändert, nicht nur im Großen, sondern im Kleinen, vermittelt das Buch auf vielen Seiten in intimen Szenen wie dieser hier:

„The almanac had a strange, soapy smell and made a cracking noise like fire as [Cora] turned the pages. She’d never been the first person to open a book.“ (S. 301)

Wir lesen auch die Biografien von anderen Geflohenen, von Helfern und Helferinnen und auch von einer Angehörigen von Cora. Darauf habe ich das ganze Buch gehofft – ich hatte bräsigerweise das Inhaltsverzeichnis überblättert, in dem ich schon hätte sehen können, dass auch Coras Mutter ein paar Seiten gewidmet werden. (Daher ist das kein Spoiler. Hoffe ich.) Ein Hauptmotiv in Railroad ist das Entwurzeltsein, das Gefühl, nirgends hinzugehören. Zu wissen, man stammt aus Afrika, aber nicht zu wissen, woher genau, keine Familie zu haben, als Eltern in Sklaverei nicht zu wissen, ob man seine Kinder wachsen sehen wird, weil die Chance groß ist, dass sie verkauft werden, all das schwingt immer mit, wenn Cora nach ihrem Platz sucht.

(Kleiner Einschub: Die eigene Familie zu finden, beschäftigte ehemalige Sklaven und Sklavinnen noch lange Zeit. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fanden sich in Zeitungen Anzeigen, in denen nach Familienmitgliedern gesucht wurden. (Foner 1988, 84.) Gleichzeitig gab es Lithografien wie diese hier, mit denen man einen eigenen Stammbaum begründen konnte.)

Cora macht sich außerdem Gedanken über die Weißen und ihren Umgang mit dem Land und den Menschen, die andere Hautfarben haben. Es wird oft angedeutet, dass die Vereinigten Staaten ein Land sind, das auf Verbrechen gegründet wurde: der Mord an den amerikanischen Ureinwohnern, die unrechtmäßige Landnahme und natürlich die Sklaverei, ohne die vor allem die Südstaaten nicht so einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebten. Der allerdings immer noch geringer war als der der Nordstaaten: 1850 besaßen die Südstaaten gerade 18 Prozent der Produktionskapazitäten, obwohl sie 42 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten. 70 Prozent der Baumwolle wurden in den Norden exportiert, wo die Webereien aus dem Rohstoff Kleidung herstellten, die zu höheren Preisen exportiert werden konnte. Nur fünf Prozent der Ernte wurde in den Südstaaten verarbeitet. (McPherson 1988, 91.)

Auch die Tatsache, dass in vielen Landkreisen der Südstaaten mehr schwarze als weiße Menschen lebten, wird angesprochen; einerseits hoffnungsvoll aus der Sicht von Cora, andererseits ängstlich aus der Sicht der Plantagenbesitzer und slave catcher, denen durchaus bewusst ist, dass sie im Falle einer Revolte zahlenmäßig weit unterlegen wären.


(Quelle: James McPherson, Battle Cry of Freedom. The Civil War Era, New York 1988, S. 101. Man sieht sehr gut, dass gerade die Gebiete, in denen die arbeitsintensive Baumwolle angebaut wurde, eine große schwarze Bevölkerung haben.)

In The Internal Enemy von Alan Taylor las ich, dass gerade die zahlenmäßige Überlegenheit das bescheuerte Denkgebäude der Sklavenhalter noch wackeliger machte. Ihre Begründung für die Rechtmäßigkeit von Sklaverei war, dass Schwarze minderbemittelt seien und die guten Weißen sich quasi um sie bemühten, indem sie ihnen ein Dach über dem Kopf und Nahrung zur Verfügung stellten – im „Tausch“ gegen Arbeitskraft. Ohne die Weißen wären die Schwarzen quasi hilflos. (Ich kann dieses paraphrasierte Zitat leider gerade nicht belegen, weil ich das Buch nur aus der Bibliothek geliehen hatte.) Dass diese Auffassung kompletter Blödsinn war, war den meisten spätestens nach den ersten Revolten klar, als sehr deutlich wurde, wie groß die Sehnsucht nach Freiheit war. Als der Anteil der schwarzen Bevölkerung immer größer wurde, nahm auch die Angst vor weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen zu. Auch deswegen neigten viele Sklavenhalter zu großer Brutalität – grausame Strafen sollten zur Abschreckung vor Flucht oder Ungehorsam dienen. Gleichzeitig durften diese Strafen aber nicht so schwer sein, dass Sklaven und Slavinnen arbeitsunfähig wurden, denn sie waren schlicht wertvolles Gut, für das man durchaus hohe Preise gezahlt hatte. (Der slave catcher im Buch spricht nie von he oder she, wenn er über die Menschen redet, denen er nachstellt, sondern stets von it, dem Besitz, dem Ding.)

In Railroad Unterground gibt es also diverse Themen, die angerissen und aus der Sicht von Cora geschildert werden. Whitehead beschreibt die verschiedenen Staaten, in denen Cora sich aufhält, unterschiedlich, und auch hier vermischt er wieder Fakten mit Fiktion oder deutet Dinge an, die noch nicht passiert sind. Der Roman scheint vor dem Bürgerkrieg zu spielen, aber als Cora sich in Tennessee bewegt, wird verbrannte Erde beschrieben, verkohlte Häuser, schwarze, kahle Bäume, was ich als Vorausahnung auf den Bürgerkrieg interpretieren würde. In einer anderen Situation erinnerte mich Cora an Anne Frank, was ich für keinen ganz schiefen Vergleich halte, in einer anderen an ausgestellte Menschen in Tierparks, auch hier in Deutschland. Ich weiß bei beidem nicht, ob es diese Vorbilder auch in den USA gab, aber ich hatte das Gefühl, dass Whitehead hier bewusst die Geschichte auf weitere Verfolgte weltweit ausdehnt. Auch daher halte ich seinen Kniff, die Underground zu einem echten Zug zu machen, für einen genialen Trick, um der Leserin eine viel größere Welt zu eröffnen – und damit eine Welt an Problemfeldern, die eben nicht auf eine kurze Zeit in den Südstaaten begrenzt und damit erledigte Geschichte sind, sondern bis heute vorherrschen oder einen Einfluss auf heutige Politik haben.

(Noch ein Einschub: Mit der unsäglichen Aussage John Kellys, der Bürgerkrieg wäre deshalb ausgebrochen, weil man keinen vernünftigen Kompromiss hatte finden können, hat sich unter anderem Ta-Nehisi Coates auf Twitter beschäftigt. Der Thread hat leider zu viele Antworten, um vernünftig angezeigt zu werden, aber ich fand den verlinkten Tweet mit dem Link zu einer Quelle sehr wichtig; in ihr wird ganz klar auf Sklaverei als Wirtschaftsfaktor hingewiesen, was die Entwicklung der Argumentation von Weißen beschreibt: vom angeblich guten Förderer der schwarzen Rasse zu ihrem Ausbeuter. Ich halte Coates für einen derzeit sehr wichtigen Autoren, der eine sehr herausfordernde und unbequeme Sichtweise auf die amerikanische Geschichte der Schwarzen hat, und verweise einmal mehr auf sein neues Buch mit Essays aus den vergangenen Jahren, darunter auch das meiner Meinung nach bahnbrechende und sehr informative The Case for Reparations.)

Zurück zu Underground Railroad: Während des Lesens erinnerte ich mich an viele der Dinge, die ich eben erwähnte, während ich andere nachschlagen musste, weil ich selbst nicht sicher war, was jetzt Fakt und was Erfindung war. Ich mochte dieses Leseerlebnis sehr gerne. Vielleicht inspiriert es Menschen, die noch nicht so viel zu diesem Teil der amerikanischen Geschichte gelesen habe, auch dazu, wenigstens mal in der Wikipedia rumzuklicken. Und neben dem Lerneffekt ist das Buch sehr unwiderstehlich geschrieben. Ich habe es, wie erwähnt, an knapp zwei Tagen durchgelesen und lege es euch hiermit sehr ans Herz. Auch wenn euch der Bürgerkrieg nicht die Bohne interessiert.

Tagebuch, Samstag, 4. November 2017 – Unentschieden

Ich begann den Tag mit hammerhartem Rumlungern. Keine Lust zu putzen, keine Lust einzukaufen. Ich daddelte Hay Day auf dem iPad, las Zeitung (pünktlich im Briefkasten!) und wartete darauf, dass es Mittag wurde, um mich für die Fahrt nach Augsburg in Stadionklamotten zu werfen.

Stadionklamotten und ich werden immer noch keine Freunde. Ich weiß nie, was ich anziehen soll – welches Trikot ist schon klar, aber: wieviele Lagen? Welche Jacke? Schon die Winterstiefel oder gehen noch Sneakers? In Augsburg kommt noch dazu, dass wir immer in der beknackten Sonne sitzen, das heißt, ich brauche meist ein Cap und meine Sonnenbrille, um das Spiel entspannt verfolgen zu können. Die wollen auch irgendwo untergebracht werden und damit entscheidet sich meist die Jackenfrage, denn meine schnuffelige MärzbisNovemberjacke von Nike, unter die eben ein bis drei Shirts kommen, hat gerade zwei lausige Taschen ohne Reißverschluss. Da passt nicht mal mein Sonnenbrillenetui rein. Ja, Etui, denn ich trage ja bereits eine Brille, die ich bei Sonne eben tauschen muss. Die hat natürlich geschliffene Gläser und war dementsprechend teuer, weswegen ich die nicht einfach so locker im Shirtkragen rumbaumeln lasse. Deswegen entschied ich mich gestern für die Regenjacke mit vier Taschen, zwei davon mit Reißverschluss, wo Dinge wie Asthmaspray und Hausschlüssel reinkommen. In eine der großen Innentaschen passen Cap und Brille, in die andere kommt meist mein Stadionbuch. Eintritts- bzw. Dauerkarte und Stadionbezahlkarte sowie Semesterticket (Ticket, Studi-Ausweis, Perso, ja, die MVG nimmt das Semesterticket sehr ernst) stecken in diversen Hosentaschen.

Ich finde es sehr angenehm, dass F. damit keine Probleme hat, wenn ich im Zug nicht dauernd reden, sondern lesen oder stumm aus dem Fenster gucken möchte. Er selbst zückt dann halt sein Handy und so zuckeln wir 40 Minuten schweigend gen Augschburg. Beim Abtasten am Stadioneinlass werde ich natürlich immer gutmütig angefrotzelt, ob ich ein so langweiliges Spiel erwarte, aber das ist okay, für Bücher rechtfertige ich mich gerne.

Beim letzten Spiel, wo es kühler war als gestern, trug ich unter der Regenjacke noch die Nike-Schnuffeljacke; auf die hatte ich gestern verzichtet, es sollten laut iPhone 14 Grad und Sonne sein. Waren es auch. In der ersten Halbzeit saß F. im Shirt neben mir, was mir ein winziges bisschen zu kühl war, aber es wäre noch gegangen. In der zweiten Halbzeit war die Sonne bereits hinter dem Stadion verschwunden, und es wurde merklich kühler. Ich fror nicht, aber eine zweite Jacke wäre auch okay gewesen. Vielleicht ahnt ihr jetzt, warum ich mir immer und ewig einen Kopf darüber mache, was ich im Stadion trage. Manchmal denke ich an eine Bekannte, die in der Allianz-Arena immer in der Südkurve stand und 90 Minuten anfeuerte: „In der Kurve wird dir nie kalt.“ Ich sitze dann aber doch lieber rum als zu hüpfen.

Das Spiel selbst war spannend und endete 1:1. Vor dem Spiel wäre ich total mit einem Unentschieden gegen Leverkusen zufrieden gewesen; nach dem Spiel war ich dann aber doch quengelig, weil mehr drin gewesen wäre.

Während des Spiels hörte man plötzlich ein lautes Brummen und ich wollte mich gerade an F. wenden und fragen, was das für ein Geräusch wäre, als ein ADAC-Hubschrauber direkt über dem Stadion auftauchte. Er überflog es aber nicht, sondern schien kurz über der Dachöffnung zu kreisen. Zuerst dachte ich, haha, da wollen die Piloten oder Pilotinnen nach einem Einsatz vielleicht noch ein bisschen Fußball gucken, aber der direkte Gedanke danach erschreckte mich dann selbst ein bisschen. Der Hubschrauber stand kurz über dem Rasen und ich dachte: Hatten wir Hubschrauber als Terrorwaffe schon?

Ich ärgerte mich selbst über den Gedanken, war die nächsten 45 Sekunden aber doch sehr angespannt, als ich dem Hubschrauber durch die durchlässige Fassade zusah, direkt neben dem Stadion zu landen. Wie wir abends nachlasen, hatte sich anscheinend ein Zuschauer verletzt und benötigte Hilfe. Ich ärgerte mich immer noch über meinen blöden Gedankengang. So ganz haben die Terroristen nicht gewonnen, weil ich und viele andere immer noch zu Großveranstaltungen gehen, Konzerte und Weihnachtsmärkte besuchen, Rad fahren und einfach unser Leben leben, ihr Arschlöcher. Aber ein bisschen sind sie anscheinend doch in meinem Kopf.


Stadionbuch. Macht vom Thema her natürlich überhaupt keinen Spaß, liest sich aber bis jetzt unwiderstehlich.

Wir fuhren ähnlich schweigend zurück wie wir hingefahren waren. Abends bekochte ich F. noch mit Kürbisrisotto, das von diesem Spiegel-Rezept inspiriert war. Den Schinken habe ich mir geschenkt, und auch die verschieden geschnittenen Kürbisstückchen habe ich vereinfacht (Einheitsgröße FTW), aber was richtig toll war: weißer Pfeffer. Der brachte einen mir bisher ungekannten Geschmack ins Risotto, das ich bis auf die Zugabe von Kürbis und weißem Pfeffer wie immer zubereitete – Butter, Zwiebeln, Reis, Weißwein, Hühnerbrühe, Parmesan. Und ständig rühren! Ich weiß, darüber gehen die Meinungen auseinander, aber ich gehöre zum Team Ständig Rühren.

Tagebuch, Freitag, 3. November 2017 – Bürotag

Nachtrag zu gestern: Die FAZ kam irgendwann noch, das ND nicht mehr (egal, hat mich ja nichts gekostet). Im Flur traf ich meine Nachbarin, die gerade die ebenfalls verspätete Süddeutsche aus dem Briefkasten fischte und meinte, ihr hätte der Austräger gesagt, die Lieferung sei so spät angekommen.

Kleine Beobachtung nebenbei: Seit ich selber Zeitungen aus dem Briefkasten hole, fällt mir auf, wieviele andere im Haus auch eine beziehen – und auch die Bandbreite fällt auf. Neben den schon genannten sah ich noch den Merkur und die tz. Bisher noch keine taz. Und mit der FAZ falle ich auch sehr raus.

Ich verbrachte den Großteil des Tages am Schreibtisch, eher werbisch als kunsthistorisch. Neben dem üblichen Bürokram (Steuer, Ablage etc.) bastelte ich ein neues PDF, mit dem ich meine ganzen Belege mal hübsch präsentieren kann. Meine olle Arbeitsseite ist schon sehr in die Jahre gekommen und eine Dame mit Wissen um die Branche meinte neulich mal, kein Mensch klickt sich durch Websiten, alles wollen bloß ein PDF durchscrollen. Stimmt vermutlich. Also bastelte ich ein PDF. Das liegt jetzt noch ein paar Tage rum, dann gucke ich, ob es mir immer noch gefällt, und dann starte ich die nächste Akquiserunde.

Als täglichen Spaziergang den Weg zur Buchhandlung mit einem Umweg genommen. Dort ein bestelltes Buch abgeholt, das ich verschenken will. Aber wie das so ist mit Buchhandlungen hatte ich natürlich noch eins für mich dazubestellt. Aus Erfahrung weiß ich, dass es schlicht nicht möglich ist, nur ein einzelnes Buch zu kaufen.

Keine Lust zum Kochen gehabt, stattdessen eine Avocado auf frisches Weißbrot gehauen. Viel Tee getrunken. (Hach, Herbst!)

Was schön war, Donnerstag, 2. November 2017 – Doppelschokolade

Morgens stapfte ich erwartungsvoll zum Briefkasten, denn in ihm vermutete ich gleich vier Zeitungen: zweimal die FAZ und zweimal das Neue Deutschland, von dem ich mir ein Probeabo gegönnt habe. Zweimal pro Zeitung, weil am Mittwoch in Bayern Feiertag war, in einigen anderen Bundesländern aber nicht, weshalb da die Zeitungen normal erschienen, und als Abonnentin kriege ich alles, was erscheint, halt nachgeliefert.

Stattdessen starrte ich in einen leeren Briefkasten und war verstimmt, weil ich es mir angewöhnt habe, schon beim Frühstück ins erste Buch der FAZ reinzulesen, auch wenn ich es nicht komplett schaffe. (Ich fange immer brav vorne mit Politik an.)

Ich beschwerte mich online bei der FAZ, quengelte sinnlos in mich rein und bereitete mich weiter auf ein berufliches Gespräch am frühen Nachmittag vor. Dazu ging ich gegen 13 Uhr aus dem Haus und guckte noch mal in den Briefkasten – wo vier Zeitungen auf mich warteten. Die habe ich gestern natürlich nicht mehr alle geschafft, aber nach dem ersten Eindruck werde ich das ND-Abo vermutlich nicht in ein reguläres umwandeln.

Das Gespräch war sehr angenehm; es hatte was mit Werbung zu tun und ich freute mich darüber, mal wieder selber zu merken, was ich alles kann, in was ich allem gut bin und wie ich mir die berufliche Zukunft vorstelle. Mal sehen, was draus wird.

Abends konnte ich endlich F. wieder in die Arme schließen. In den letzten Wochen war ich ja ewig krank und schlief daher brav alleine, und dann, als ich wieder gesund war, fuhr der Herr am letzten Freitag weg, um sich Sport und Kunst in fremden Ländern anzugucken. Das einzig Gute daran: Ich bekomme von seinen Reisen immer Flughafenschokolade mitgebracht, weil ich der festen Überzeugung bin, dass Flughafentoblerone besser schmeckt als Supermarkttoblerone. Gestern erhielt ich sogar die doppelte Menge: „Ich konnte mich bei den Botschaften nicht entscheiden.“

Und dazu gab’s ein Gläschen Honig von den Bienen auf der Tate Modern, was mich sehr gefreut hat. Ich habe es noch nie geschafft, Honig von der Bayerischen Staatsoper zu bekommen oder von den Pinakotheken – und das, obwohl letztere den besten Twitter-Namen aller Zeiten für ihre Völker haben: Bienakotheken.

Heute war die FAZ wieder zu spät, das ND ist noch nicht aufgetaucht. *krückstockfuchtel*

Was schön war, Mittwoch, 1. November 2017 – Im Olympiapark

In der eigenen Stadt unternimmt man ja nie die Dinge, die man Besucher*innen von auswärts empfiehlt. (Man = ich.) Ich wohne nun seit fünf Jahren in München – ich unterschrieb den Mietvertrag laut meines eigenen Blogeintrags, den ich eben gesucht habe, am 30. Oktober 2012 – und war erst einmal im Olympiapark und da wohnte ich noch nicht einmal hier. Das war am Tag des Finale dahoams (the game that should not be named), als vor dem eigentlichen Spiel in der Allianz-Arena noch ein bisschen Ringelpiez-Fußball mit alten Allstars im Olympiastadion stattfand. Schon damals war ich von der Anlage fasziniert, hatte aber ganz andere Dinge im Kopf. Jetzt, mit ein bisschen mehr Wissen über Stadionarchitektur und einem freien Tag vor mir, wollte ich noch einmal durch den Park spazieren.

Ich ließ mich vom Bus bis zur Station Olympiaberg chauffieren, denn ich wollte erstmal auf den Berg klettern, um von dort einen Überblick über die gesamte Anlage zu haben. Ich hatte allerdings meine gute Kamera nicht dabei, sondern nur das iPhone. Damit hätte aber auch niemand rechnen können, dass ich aus meinem Spaziergang einen Blogeintrag mache, neinnein. (Ich Hirn. Irgendwann lerne ich dieses Bloggen noch mal richtig.)

Der Olympiaberg wurde zwischen 1947 und 1958 aus Weltkriegsschutt zusammengehäuft. Ich bin nicht ganz bis zum Gipfelkreuz geklettert, sondern gefühlt in dreiviertel Höhe herumspaziert. Wenn das Stadion zum ersten Mal sichtbar wird, sieht es ein bisschen wie ein Ufo aus. Wenn ihr mal zum eben verlinkten Wikipedia-Eintrag klickt, bekommt ihr schöne Hochglanzbilder. Ich mochte es im Nachhinein ganz gerne, dass alles grau in grau war, das verstärkte die irreale Architektur noch mehr.

Der gesamte Olympiapark wurde als bewusstes Gegenstück zum Reichssportgelände von 1936 entworfen, als die bis dahin letzten Olympischen Spiele in Deutschland bzw. dem Deutschen Reich stattfanden. Ich zitiere mal meine eigene Hausarbeit über Sportstadien; ihr findet das Zitat mit allen Quellenangaben auf den Seiten 6/7:

„In Amsterdam 1928 wurden die zusätzlichen Sportanlagen städtebaulich um das Stadion herum gruppiert; es entstand die erste olympische Gesamtanlage. Die Spiele in Berlin 1936 gingen über diese reine Sportanlage deutlich hinaus: Auf dem sogenannten Reichssportfeld entstanden zusätzlich zum Stadion für 100.000 Zuschauer noch „einer einheitlichen Pflege des deutschen Sports dienende[…] Bauten mit Gedächtnis- und Versammlungsstätten der Nation, mit Theater[n] und Denkmälern in einem Festraum vereinigt“.

Geplant wurde das Stadion bereits 1925 von Werner March (1894–1976); die Nationalsozialisten veränderten den modernen Entwurf während der Bauphase zu einem imperialen Monumentalbau im Sinne der staatlichen Überwältigungsarchitektur. Neben dem Stadion lag das Maifeld mit Tribüne, auf dem 250.000 Menschen aufmarschieren konnten. Das Marathontor im Stadion gab den Blick frei auf einen Glockenturm am westlichen Ende des Maifelds, der über der Langemarckhalle stand, in dem deutscher Toten des Ersten Weltkriegs gedacht wurde. Damit war erstmals ein Sportstadion der Neuzeit nicht nur Teil einer staatlichen Repräsentation, sondern seiner Ideologie: Die Spiele sollte nicht nur die Aufrüstung für einen neuen Weltkrieg verschleiern, sondern auch die angebliche Überlegenheit der arischen Rasse demonstrieren. Die Monumentalarchitektur war die Bühne dieser Ideologie.

An den Spielen in München 1972 lässt sich gut ablesen, wie sehr sich das Selbstverständnis eines Staates ändern kann. Die „heiteren Spiele“, die „Spiele im Grünen“, waren architektonisch ein deutlicher Gegenentwurf zu Berlin: „Statt in geordneten Marschkolonnen und in geometrisierter Kanalisierung bewegten sich die Menschen im freien Fluss, im hügeligen Park, unter einer lichtdurchlässigen Zeltlandschaft, geleitet von heiteren Farben zur Orientierung.“ Bei den „heiteren Farben“ hatte man bewusst auf Rot verzichtet, um auch die letzten Assoziationen zu den Berliner Spielen zu tilgen.“

Und auf Seite 8:

„Das Münchner Olympiagelände inklusive des Stadions war von Anfang an Teil einer zukunftsfähigen Stadtplanung. Zur Vorbereitung der Spiele wurde die Münchner Innenstadt fußgängerfreundlicher gestaltet, die öffentlichen Verkehrsmittel wurden verbessert, 233 neue Straßenkilometer gebaut sowie diverse Einkaufs- und Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen. Das Gelände ist bis heute ein beliebter und belebter Park, und aus dem Olympischen Dorf wurden begehrte Miet- und Eigentumswohnungen. Das Stadion selbst war zwar nicht als bauliche Ikone geplant, sein charakteristisches Zeltdach ist aber inzwischen aus der Stadtsilhouette nicht mehr wegzudenken.“ Das liegt auch daran, dass die Bürger und Bürgerinnen für den Erhalt der olympischen Anlagen kämpften. Nicht in jeder Stadt blieben die Stadien bestehen.“

Eine Fußnote dazu:

„Olympiagelände-Architekt Günter Behnisch schrieb 1987: „Im Bild des Olympiaparks hat sich die Überdachung stärker in den Vordergrund geschoben als dies zunächst geplant war. Ihrer sichtbaren, auffälligen Form wegen […] So übersieht man leicht, daß das Wesentliche unseres Entwurfes unter und neben dem Dach liegt; es ist die Sport- und Spiellandschaft, der Münchner Olympiapark.“

Diese Sport- und Spiellandschaft ist deutlich größer als ich dachte. Ich kannte den Park bisher nur aus der Gegenrichtung, als wir mit einem Uni-Seminar die BMW-Welt besuchten und über ihre ikonische Architektur sprachen. Von einer nahegelegenen Brücke aus ist das Stadiondach sichtbar, aber wie groß der Park mit seiner Seenlandschaft eigentlich ist, konnte ich erst gestern erfassen.

Ich ging am See entlang und überquerte ihn am Fuß des Bergs in Höhe des Olympiaturms. Dort beginnt die Zeltlandschaft; das Zeltdach vom Olympiastadion ist nicht das einzige Gebäude, das mit dieser irrwitzigen Konstruktion überspannt ist. Als erstes wurde die Schwimmhalle sichtbar, die so aussieht, als würde der gewaltige Mast das Dach nach oben ziehen. Hier sind auch schon weitere Stahlseile sichtbar, die auf dem gesamten Gelände immer wieder auftauchen und einen ständig daran erinnern, wie diese Dachlandschaft konstruiert ist. Ich mag diese sichtbare Architektur sehr gern.

Direkt neben der Schwimmhalle liegt die Olympiahalle, die heute unter anderem für Konzerte genutzt wird. Zwischen den beiden Gebäuden geht man durch die Dachlandschaft hindurch. Das sieht auf den Bildern übrigens alles gammeliger aus als es ist. Ich fand es zauberhaft, vor allem den Kontrast aus dem leichten und stets gespannt aussehenden Dach und den massiven Betonblöcken, aus denen die Stahlstützen sprießen.


Wenn man durch diesen Kristallwald gegangen ist, steht man an der Längsseite des Olympiastadions, von dem man nur die schrägen Flutlichtmasten sieht. Geht man nach rechts, kommt man an die alten Olympiakassen mit ihrer dreisprachigen Beschriftung. Okay, die sehen wirklich so gammelig aus und sie sind auch nicht mehr in Benutzung. An einer neueren Kasse kann man sich für 3,50 Euro eine Eintrittskarte fürs Stadion kaufen und dort herumwandern.

Hier sieht man an der Säule die angesprochenen Farben, in denen kein Rot vorkommt. Und natürlich die herrlichen Piktogramme von Otl Aicher. (Gestern war offensichtlich kein Biergarten- und Ausflugswetter. Also genau mein Ding.)

Der einzige Weg durch das Stadion führt einmal außen und oben an den Sitzreihen entlang. Auf halber Höhe hat man dann diesen Ausblick.

Für mich war das eine kleine Mutprobe, einmal bis nach ganz oben zu den alten Kommentatorenkabinen zu wandern. Ich fühle mich schon auf Leitern in Altbauwohnungen in zwei Meter Höhe nicht so recht wohl, und hier geht man auf einem einen Meter breiten Betonsteg nach oben bis in circa 40 Meter Höhe, der links zu den Sitzen offen ist und rechts nur mit einem Gitter und Geländer vor dem Abgrund schützt. Ich hielt mich mit der rechten Hand konstant fest und blickte immer ins Stadioninnere. Ab und zu wagte ich einen Blick nach rechts, um die massiven Pfeiler zu bewundern, an denen die Dachkonstruktion hängt, aber nie lange. Ich fand das sehr unangenehm, dort oben rumzuturnen. Außerdem fiel mir auf, dass es im gesamten Stadionrund keine Geländer und nur wenige Trennzäune gibt; die Sitze sind kaum unterteilt, man kann durch fast alle Blöcke einfach hindurchwandern. Das klappt soweit ich weiß in keinem modernen Stadion mehr, vermutlich aus Sicherheitsgründen (marodierende Fanhorden und so, kennt man ja, schlimme Fußballfans. Daher auch immer die Blocksperre für Gästefans nach Abpfiff). In der Allianz-Arena gibt es an den Treppen in den Blöcken auch keine Geländer, was mich jedesmal irre macht, weil ich mich halt gerne ab und zu irgendwo festhalte. Die Blöcke sind in neuen Stadien deutlich steiler; man kann dadurch eindeutig besser Fußball gucken, aber es geht eben auch sehr steil auf- und abwärts. Gerade abwärts freue ich mich über etwas, das mir fußlahmen Fan etwas Sicherheit bietet. In Augsburg sind an den einzelnen Sitzreihen Metallstäbe, an denen ich mich wenigstens temporär festhalten kann. In der Allianz-Arena greife ich durchaus mal nach der Schulter eines Vordermanns, wenn ich das Gefühl habe, nicht sicher zu stehen. Das führt meist zu freundlichen Kennenlernsituationen; ich habe bis jetzt jedenfalls noch keinen Ärger bekommen, wenn ich erkläre, dass ich wackelig stehe. Ist trotzdem doof, wildfremde Menschen angrabschen zu müssen, weil es sonst nichts anderes zum Festhalten gibt. (Kleiner Exkurs Ende.)


Wenn man das Stadion einmal halb umrundet hat, kommt man an der nicht überdachten Seite wieder heraus. Dort bewunderte ich die schon erwähnten schrägen Flutlichtmasten, die gefühlt an einem seidenen Faden hängen, um nicht umzukippen. Die Masten und das Dach sehen aus, als würden sie konstant unter Spannung stehen; die Neigung der Masten verstärkt dazu noch das Gefühl von Dynamik, das bereits das Dach erweckt, alles scheint sich zum Innenraum zu neigen und zu drängen. Sportstadien sind ja gerne massive Klötze, die brutal in der Gegend herumstehen. Das Olympiastadion vermittelt einen ganz anderen Eindruck, es wirkt leicht und offen, einladend und fast bewegt. Ich konnte mich überhaupt nicht sattsehen.

Von der nicht überdachten Seite sieht man noch einmal das Schwimmstadion.

Und nach den vorhin schon gezeigten Olympiakassen geht man durch eine weitere zerklüftete Dach- und Seilkonstruktion und verlässt das Olympiagelände in Richtung U-Bahn und BMW-Welt. Unten im Bild, unter der tiefsten Zeltwölbung, ist ein parallel zur Erde ausgerichteter Balken zu sehen.

Das ist die Skulptur „Klagebalken“ von Fritz Koenig. Auf ihm sind die Namen der elf israelischen Opfer in Hebräisch sowie der Name des deutschen Opfers des Olympia-Attentats 1972 in lateinischen Buchstaben eingemeißelt.

Als ich den Klagebalken betrachtete, fiel mir ein, dass erst in diesem Jahr ein neuer Erinnerungsort eingeweiht wurde. Hatte ich den übersehen? Ich wusste nicht, wo er war und wie er aussah. Aber ich ahnte, dass ich auf ihn zulief, als mir kurz vor der U-Bahn-Station eine Art abgetragene Grasnarbe auffiel. Es sieht aus, als hätte man die Rasenfläche um zwei Meter angehoben, um darunter einen kleinen Ort des Gedenkens einzurichten. Eine breite Stele trägt das Dach, der dadurch entstandene Raum ist zu drei Seiten geöffnet, die vierte Wand ist eine Videowand, auf der Filmausschnitte aus der Zeit des Attentats laufen. Ich sah unter anderem Ausschnitte aus der Rede von Avery Brundage mit seinen bekannten Worten: „The games must go on.“ Vor der Videowand standen einige Teelichter.


Auf der breiten Stele sind die Biografien der zwölf Getöteten in deutsch und englisch abgedruckt. Alle enden mit der Abbildung eines persönlichen Gegenstands; der letzte Brief, den einer der Athleten schrieb, die Kippa, die alle israelischen Sportler für die Einmarschzeremonie erhalten hatten oder das Stoffmaskottchen Waldi, das André Spitzer für seine Tochter gekauft hatte.

Ich wunderte mich zunächst über den Standort des Memorials, es kam mir so seltsam in die Landschaft gesetzt vor. Erst als ich die Stele umwanderte, wurde mir klar, warum es hier stand: Von der einen Seite blickt man auf das Olympiagelände, den Ort, weswegen die Menschen alle hier waren; von der anderen Seite sieht man genau auf das olympische Dorf, dem Tatort des Anschlags.

Ein bisschen stiller als gedacht ging ich zur U-Bahn. Rechts davon tauchte die BMW-Welt auf, deren Architektur ich eigentlich ziemlich beeindruckend fand, als ich sie mit dem Seminar genauer betrachtet hatte. Jetzt, mit den Eindrücken des Olympiageländes, kam sie mir plötzlich ziemlich banal vor.