Was schön war, Mittwoch, 21. März 2018 – Archivanke
In der Nacht zum Mittwoch schlief ich sehr schlecht – vermutlich aus Vorfreude. Denn so nett es ist, wieder Geld zu verdienen, so viel netter ist es, sich kunsthistorisch zu betätigen (sorry, Werbung). Mit dem Gedanken setzte ich mich dann auch morgens um 8 in den Zug nach Nürnberg: endlich den ganzen Tag mal wieder was Vernünftiges machen!
Mein Ziel war das Deutsche Kunstarchiv, das, Zitat von der Website, „größte Archiv für schriftliche Vor- und Nachlässe im Bereich der bildenden Kunst im deutschsprachigen Raum. Es umfasst mehr als 1.390 Bestände, die sich über 2,8 Regalkilometer erstrecken.“ Ich hatte mir per Mail den Nachlass von Carl Theodor Protzen ausheben lassen, über den ich das wenige, was im Kubikat zu finden war, bereits vor Wochen oder Monaten gelesen hatte, bevor ich wieder unsicher wurde, ob der Herr so eine gute Idee wäre, auch im Zusammenspiel mit anderen Malern. Das Doktorandenkolloquium erinnerte mich aber wieder daran, vielleicht erstmal in die Quellen zu gucken und sich danach zu überlegen, ob es sich lohnt, weiter auf dem Thema rumzuhühnern. Nach dem gestrigen Tag würde ich vorsichtig sagen: Da geht noch was.
Gestern war mein Ziel, den gesamten Nachlass überhaupt erst einmal zu sichten. Ich hatte noch keine direkte Frage, sondern wollte schlicht schauen, was in den zwei Regalmetern drin war. Das Archivgut ist völlig unerschlossen; es sieht aus, als hätten die fleißigen Archivar*innen den Kram liebevoll in die schicken Archivboxen gepackt und dann nie wieder reingeschaut. (Seit unserem Besuch im Stadtarchiv Rosenheim weiß ich, dass Archivboxen was anderes sind als Umzugskartons.)
Der Nachlass ist zudem auch gleich zwei Nachlässe, nämlich der von Protzen und seiner Frau Henny Protzen-Kundmüller, für die ich nach gestern eigentlich mal den noch fehlenden Wikipedia-Eintrag schreiben könnte. In den komplett ungeordneten Kisten liegen bergeweise Skizzenbücher von ihr, was ich insofern spannend fand, weil wir ja gerade Skizzenbücher in der Pinakothek der Moderne angeschaut und besprochen haben. Jetzt weiß ich erst recht, wie gut diese Ausstellung kuratiert war. Außerdem fand sich viel private Korrespondenz, von der ich besonders die passiv-aggressive Auseinandersetzung mit dem Herrn Papa des Künstlers fasziniert und leicht unangenehm berührt überflogen habe. Liebesbriefe ließ ich aus Zeitgründen links liegen. Was leider völlig fehlt, ist geschäftliche Korrespondenz. Die hat mir bei der Arbeit zu Leo von Welden sehr weitergeholfen, weil sich dort viele Verbindungen erfassen ließen. Wenn ein Verlag ihn schriftlich für eine Illustration anfragt und sich dabei auf eine Veröffentlichung von ihm in Zeitschrift XY bezieht, wusste ich so, ah, in Zeitschrift XY war auch noch was von ihm, danke, gleich mal in der Stabi bestellen.
Ebenfalls im Nachlass: bergeweise private Fotoalben, leider fast immer undatiert. Am Erscheinen der ersten Hakenkreuzflaggen an irgendwelchen Häusern im Hintergrund kann man zwar immerhin das Jahrzehnt festlegen, aber das war’s meistens. Das Oktoberfest konnte ich noch bildlich identifizieren, und ich stellte fest, dass selbst zu NS-Zeiten kaum Dirndl und Lederhosen unterwegs waren. Just sayin’. Außerdem: Bilder von der Grundsteinlegung des Hauses der Kunst 1933. Ich hatte gestern auf einen der Umzüge zum Tag der Deutschen Kunst getippt, die, wenn ich mich richtig erinnere, ab 1937 stattfanden, also mit Festwagen und Firlefanz, aber bei der spontanen Bildersuche fand ich Fotos, die denen von gestern sehr ähnlich sahen, und die zeigen die Grundsteinlegung.
Der Jackpot war sein fast vollständiges Werkverzeichnis. Also Werkverzeichnis in Anführungszeichen. Es gibt mehrere Fotoalben, in denen er von 1922 an bis zu seinem Tod 1956 alle seine Gemälde fotografisch festgehalten hat, nur schwarzweiß, aber brav nummeriert mit Maßangaben und Titel, teilweise mit Käufernamen. Was bräsigerweise fehlt, ist die Jahresangabe, du Horst! Manche lassen sich recht simpel identifizieren. An einigen steht zum Beispiel „Glaspalastbrand“, was bedeutet: 1931. Andere Bilder kenne ich aus der GDK. Und da es so aussieht, als hätte er halbwegs korrekt chronologisch gearbeitet, müssten sich die Bilder dazwischen auch einigermaßen datieren lassen. Alleine das müsste schon für eine hübsche Dissertation reichen: kurze Biografie, Werkverzeichnis, fertig. Aber das ist mir natürlich zu langweilig.
In den Kisten liegen nämlich noch andere Belege seines Schaffens und die unterstützen eine Theorie von mir, mit der ich seit ein paar Monaten kämpfe, weil sie eben noch sehr theoretisch war. Sie klingt jetzt deutlich praktischer, weswegen ich hier weiterforschen werde und dazu noch auf ein paar anderen Baustellen. Ich muss hier ein bisschen vage bleiben, weil es eben noch vage ist. Außerdem sollte ich vielleicht mal in meine Prüfungsordnung gucken, ob ich überhaupt über meine Diss so detailliert bloggen (im Sinne von „Dinge veröffentlichen“) darf, fällt mir gerade ein.
Ich fand zusätzlich bergeweise Ausstellungskataloge, die ich teilweise in den Regalen des ZI schmerzlich vermisst hatte, denn die meisten waren mir namentlich schon bei der Arbeit zu von Welden untergekommen. Überhaupt merkte ich gestern, wie wichtig meine diesbezügliche Forschung gewesen ist: Ich hatte Daten parat, Abläufe des NS-Kunstsystems, Preise, Namen, Bildthemen. Das fühlte sich sehr anders an als mein erster Kontakt mit einem Nachlass, nämlich mit dem von Weldens, den ich relativ ziellos erschlossen hatte. Auch gestern wühlte ich einfach mal durch, merkte aber schon bei den ersten Kisten, dass ich innerlich doch bewusster schaute.
Ich schaffte es, das gesamte Material, wenn auch teilweise nur sehr oberflächlich, in sechs Stunden einmal komplett durchzusehen. Abends diskutierte ich natürlich alles mit F., und in dieser Diskussion festigten sich meine nächsten Schritte. Mal sehen, wann ich für sie Zeit habe. Ins Kunstarchiv fahre ich auf jeden Fall noch mehrere Male, alleine um das Werkverzeichnis komplett abzufotografieren. Und dann quengele ich die Bayerische Staatsgemäldesammlung voll, dass ich gefälligst ihre über 100 Werke angucken will. Aber ich ahne, dass ich da lange vergeblich quengeln werde. Egal. Ich habe ja noch andere Baustellen.
Was schön war: endlich den ganzen Tag mal wieder was Vernünftiges gemacht!