Tagebuch Montag, 22. April 2019 – Lesetag: „Stamped from the Beginning“

Im Februar war der Verfasser von Stamped from the Beginning: The Definitive History of Racist Ideas in America, Ibram X. Kendi, in München, um über sein Buch zu sprechen, ich schrieb darüber. Im März begann ich, es endlich zu lesen, und es hat doch etwas gedauert, sich durchzukämpfen.

Stamped ist ein fast atemloser Abriss über die Entstehung rassistischer Ideen und ihrer Verbreitung hauptsächlich in den USA. Atemlos, weil der Herr über 400 Jahre Geschichte auf 500 Seiten unterbringen und sich daher sehr oft sehr kurz fassen muss. Es bleibt Kendi kaum etwas anderes übrig, als vieles nur anzureißen, aber er schafft es immer, die grundsätzlichen Themen und Problematiken aufzubereiten, um eine Entwicklung aufzuzeigen. Oder eben auch keine: Rassistisches Gedankengut ist da und will anscheinend auch nicht weggehen, ganz egal, welche Strategien schwarze Menschen (und ihre Allys) dagegen entwickeln.

Das Buch nutzt die Biografien von fünf Menschen als Gerüst, um daran die sich verändernde Gesellschaft wiederzugeben, in der sich die fünf bewegen. Wir beginnen mit dem Puritaner Cotton Maher, in dessen Kapitel die Ursprünge rassistischen Gedankenguts erläutert werde und wie sie von Europa, wo Portugal im 15. Jahrhundert Afrikaner*innen verschleppte, in die USA gelangten. Auch der Begriff der „Rasse“, auf Menschen angewandt, scheint im 15. Jahrhundert entstanden zu sein. Das erste Sklavenschiff aus Afrika, das Nordamerika erreichte, sollte eigentlich in den Süden des Kontinents fahren, legte aber zwischen Juli und August 1619 in Virginia an. Das Kapitel beschäftigt sich hauptsächlich mit den damals immer neuen Theorien, wie man die Minderwertigkeit schwarzer Menschen „belegen“ kann, was mein Verständnis von vielen weißen Denkern um eine Facette erweitertern konnte. Dass gerade die Aufklärung nicht immer dem entsprach, was ich in der Schule gelernt hatte, wurde hier noch einmal bestätigt: Im Bezug auf Frauen hatte ich das schon in der Uni mitbekommen, das auf einmal wilde Gedankengebäude errichtet wurden, um klarzumachen, dass die Weibsbilder eher doof sind und des schlauen Hausherrn bedürfen, nachdem sie es jahrhundertelang trotz ihrer angeblichen Minderwertigkeit aber anscheinend irgendwie geschafft hatten, Haushalte zu führen, den Überblick über Finanzen zu behalten, medizinisches Wissen zu erwerben und so weiter und so fort, bitte lesen Sie andere Bücher zu diesem Thema. Die Aufklärung war aber auch groß darin, schwarze Menschen auf diverse Stufen unterhalb der weißen zu stellen. (Ich schrieb schon einmal über die Idee des polygenism.)

Damit beginnt das zweite Kapitel, das sich an der Biografie Thomas Jeffersons anlehnt, der in der hauptsächlich von ihm verfassten Unabhängigkeitserklärung nicht auf die Idee kommt, dass sein schöner Satz „all men are created equal“ auch für Schwarze gilt. Und für Frauen, aber ich lasse dieses Fass jetzt mal stehen, ich krieg schon wieder schlechte Laune – was übrigens die Grundemotion ist, mit der man dieses Buch durcharbeitet. Dass Jefferson mehrere Kinder mit einer seiner Sklavinnen, Sally Hemings, hatte, ist inzwischen auch nichts Neues mehr.

In diesem Kapitel war für mich die Überlegung der sogenannten uplift suasion spannend, also die Idee, dass Schwarze Weiße davon überzeugen müssten, eigentlich ganz okay zu sein. Die Idee, möglichst nett zum Unterdrücker zu sein, um ihm klarzumachen, dass man selbst kein Untermensch ist, zieht sich bis heute auch auf anderen Ebenen durch, und sie funktioniert nie. Frauen werden Maskulisten nicht überzeugen, Geflüchtete keine AfD-Wähler, Dicke keine Slimfastfans. Ja, dünnes Eis, ich weiß. Ich habe mich aber so oft an die eigene Nase gefasst, weil ich mich daran erinnert habe, wie sehr ich versucht habe und es teilweise immer noch versuche, Menschen davon zu überzeugen, dass ich als dicke Frau genauso viel wert bin wie ein schlanker Mann. Wenn man das liest, merkt man, wie bescheuert dieser Gedankengang ist. Ich muss niemanden von meinem Wert überzeugen, der ist inhärent. In jedem Menschen, immer, überall. Trotzdem war die „uplift suaison“ eine Taktik, um Weißen klarzumachen, dass Schwarze nicht dumm, faul und wasweißichnoch sind. Das zieht sich auch ins nächste Kapitel, wo William Lloyd Garrison die Hauptfigur ist.

Garrison war einer der ersten aktiven Abolitionisten, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten. Er war aber auch einer der von Kendi sogenannten assimilationists. Kendi unterscheidet konsequent durch das ganze Buch hindurch, was ich sehr hilfreich fand, zwischen Rassisten, assimilationists und anti-racists. Garrison glaubte, wie viele seiner Zeit, dass die Sklaverei schwarze Menschen derart beschädigt habe, dass sie nun Hilfe bräuchten, zu den Weißen aufzuschließen. Nett gemeint, aber: rassistisch, denn das bedeutet, dass er Schwarze als minderwertiger ansieht als Weiße. Social Uplift war eine Strategie, die vor allem nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs und dem (angeblichen) Ende der Sklaverei verfolgt wurde. Zum ersten Mal wurde von Schwarzen verlangt, sich doch nun bitte weiß zu verhalten, aber gleichzeitig wurde ihnen vorgeworfen, eben das nicht zu schaffen, was auf persönliches Versagen zurückgeführt wurde und nicht auf die Umstände, die bis heute dafür sorgen, dass Weiße und Schwarze nicht die gleichen Voraussetzungen haben. Mitte der 1990er Jahre waren 40 Prozent der Insassen von Todeszellen schwarz, obwohl sie nur 10 bis 14 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Ungefähr zur gleichen Zeit besaßen Schwarze ein Prozent (!) des US-amerikanischen Gesamtvermögens. 1865 waren es 0,5 Prozent. 2012 stellte eine Studie fest, dass weiße Jugendliche dreimal so oft zu Drogen griffen als Schwarze, diese aber weitaus öfter dafür festgenommen wurden. (Für weitere Zahlen verlinke ich mal wieder auf Ta-Nehisi Coates ausgezeichnetes Essay The Case for Reparations von 2014.) Ich habe übrigens auch gelernt, dass das good hair, das ich nur von Beyoncé kannte (“Becky with the good hair”, Lemonade) schon ein Begriff des 19. Jahrhunderts war, wo teilweise Schwarzen unterstellt wurde, gar keine Haare auf dem Kopf zu haben, sondern Wolle. Wie Schafe.

Zurück zu der Dreiteilung von assimilationists, racists und anti-racists. Ich finde die Stelle im Buch leider nicht wieder, sie kommt im letzten Kapitel, als es um Reagans war on drugs und die perfide Fantasiegestalt der welfare queen geht, aber sinngemäß kann man es so erklären: Rassisten glauben, es ist irgendwas nicht in Ordnung mit Schwarzen. Anti-Rassisten sagen, es ist alles in Ordnung, es gibt bei Schwarzen genau wie bei Weißen diverse Charaktere, ein Verbrecher steht nicht für alle anderen seiner Hautfarbe, genausowenig wie ein Genie. Assimilationisten glauben, im Prinzip ist alles in Ordnung mit Schwarzen, aber sie könnten sich ja schon ein bisschen zusammenreißen und anstrengen, dann würde es ihnen besser gehen. Ich hoffe, das ist nicht zu flapsig wiedergegeben.

Kendi nennt auch den Protagonisten des vierten Kapitels, W. E. B. Dubois, einen assimilationist, denn auch er ist anfangs noch von uplift suaison überzeugt, bis ihm im Laufe seines langen Lebens allmählich klar wird, dass Schwarze sich noch so viel anstrengen können wie sie möchten – für Rassisten werden sie nie gleichwertig werden. Angela Davis, die Hauptfigur des letzten Kapitels, hat sich von dieser Vorstellung auch schon verabschiedet. Ihr Kapitel war für mich fast am aufschlussreichsten, weil es in die Jetzt-Zeit hineinreicht und Menschen auftauchen, die mir durch Medien oder ihre Werke schon begegnet sind (Spike Lee, The Cosby Show, Set If Off, Barack Obama). Auf einmal las sich das Buch nicht mehr wie ein Geschichtsbuch, sondern wie ein Kommentar zur Lage der Nation. Allerdings kein besonders optimistischer.

Was mir am Buch sehr gefallen hat, war die Inklusion von anderen Denkweisen, die sich mit Diskriminierung befassen. Intersektionalität ist bei Kendi von Anfang an dabei, es geht ihm nie ausschließlich um große Männer und ihre Politik, sondern auch um die besondere Rolle, die Frauen in der Rassismusfrage hatten und haben (wird spätestens bei der Diskussion der Black Power bzw. Black Panther sichtbar). Er bezieht außerdem Latina/os mit ein (seine Schreibweise) und ist sich sehr darüber bewusst, dass eine Person immer vieles in sich vereint.

Außerdem zitiert Kendi aus vermutlich allen wichtigen Texten zu diesem Thema. Alleine für die Leseliste, die man sich im Laufe der Kapitel zusammenstellen kann, lohnt sich das Buch. Ein befreundeter Historiker, dessen Gebiet die USA im 19. Jahrhundert sind, meinte, er habe nicht viel Neues gelesen, aber für mich waren doch noch viele Ebenen zu entdecken, vieles neu zu überdenken und eigene Vorurteile überhaupt erstmal festzustellen. Das Buch ist unter dem Titel Gebrandmarkt: Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika inzwischen auch auf Deutsch erschienen, zur Übersetzung kann ich allerdings nichts sagen. Wenn ihr euch den oben verlinkten Facebook-Vortrag mal anschaut: So wie der Mann spricht, schreibt er auch. Größtes Kompliment, das ich verleihen kann.

Große, anstrengende, aber wie ich finde, äußerst sinnvolle Leseempfehlung, gerade weil es in der Universalität der Rassismusdefinition eben nicht nur auf die USA begrenzt ist, sondern auf andere Länder übertragbar ist.

Besprechung in der Washington Post: The Racism of Good Intentions.

Rezensionsübersicht der deutschen Ausgabe beim Perlentaucher.